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101.
Fichte.
Quelle: Fichte, Reden an die deutsche Nation. Berlin 1869. Aus der
12. Rede. S. 119—121.
Die Erziehung, die wir den Deutschen zu ihrer künftigen Nationalerziehung
vorschlagen, ist nun sattsam beschrieben. Wird das Geschlecht, das durch sie ge-
bildet ist, nur einmal dastehen, dieses lediglich durch seinen Geschmack am Rechten
und Guten und schlechthin durch nichts anderes getriebene, dieses mit einem Ver-
stande, der für seinen Standpunkt ausreichend, das Rechte allemal sicher erkennt,
versehene, dieses mit jeder geistigen und körperlichen Kraft, das Gewollte allemal
durchzusetzen, ausgerüstete Geschlecht, so wird alles, was wir mit unseren kühnsten
Wünschen begehren können, aus seinem Dasein von selbst sich ergeben und aus
ihm natürlich hervorwachsen. Diese Zeit bedarf unserer Vorschriften so wenig, daß
wir vielmehr von ihr zu lernen haben würden.
Da inzwischen dieses Geschlecht noch nicht gegenwärtig ist, sondern erst herauf-
erzogen werden soll, und, wenn auch alles über unser Erwarten trefflich gehen sollte,
wir dennoch eines beträchtlichen Zwischenraumes bedürfen werden, um in jene Zeit
hinüberzukommen, so entsteht die näherliegende Frage, wie sollen wir uns auch nur
durch diesen Zwischenraum hindurchbringen? Wie sollen wir, da wir nichts Besseres
können, uns erhalten, wenigstens als den Boden, auf dem die Verbesserung vor-
gehen, und als den Ausgangspunkt, an den jene sich anknüpfen könne? . . . . .
Wer sich ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst gehen und von den Umständen
sich gestalten läßt, wie sie wollen, der gewöhnt sich bald an jede mögliche
Ordnung der Dinge. So sehr auch sein Auge durch etwas beleidigt werden
mochte, als er es das erste Mal erblickte, laßt es nur täglich auf dieselbe Weise
wiederkehren, so gewöhnt er sich daran und findet es späterhin natürlich und als
eben so sein müssend, gewinnt es zuletzt gar lieb, und es würde ihm mit der
Herstellung des ersten besseren Zustandes wenig gedient sein, weil dieser ihn aus
seiner nun einmal gewohnten Weise zu sein herausrisse. Auf diese Weise gewöhnt
man sich sogar an Sklaverei, wenn nur unsere sinnliche Fortdauer dabei un-
gekränkt bleibt, und gewinnt sie mit der Zeit lieb; und dies ist eben das ge-
fährlichste an der Unterworfenheit, daß sie für alle wahre Ehre abstumpft und
sodann ihre sehr erfreuliche Seite hat für den Trägen, indem sie ihn mancher
Sorge und manches Selbstdenkens überhebt.
Laßt uns auf der Hut sein gegen diese Uberraschung der Süßigkeit des
Dienens; denn diese raubt sogar unseren Nachkommen die Hoffnung künftiger Be-
freiung. Wird unser äußeres Wirken in hemmende Fesseln geschlagen,
laßt uns desto kühner unseren Geist erheben zum Gedanken der Freiheit,
zum Leben in diesem Gedanken, zum Wünschen und Begehren nur dieses
einigen. Laßt die Freiheit auf einige Zeit verschwinden aus der sichtbaren Welt;
geben wir ihr eine Zuflucht im Innersten unserer Gedanken so lange, bis um uns
herum die neue Welt emporwachse, die da Kraft habe, diese Gedanken auch äußer-
lich darzustellen. Machen wir uns mit demjienigen, was ohne Zweifel unserem
Ermessen frei bleiben muß, mit unserem Gemüte, zum Vorbilde, zur Weissagung,
zum Bürgen desjenigen, was nach uns Wirklichkeit werden wird. Lassen wir
nur nicht mit unserem Körper zugleich auch unseren Geist niedergebeugt
und unterworfen und in die Gefangenschaft gebracht werden!