Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Zweiter Teil. Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815. (2)

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nicht anders sein, war die Meinung der großen Menge. Sowie die erste Kunde 
von dem Rückzuge der Franzosen einlief, geriet alles in die größte Bewegung. 
Es war wie ein fernes Donnern, das das hereinbrechende Gewitter verkündet. 
Staunend sahen sich die Menschen an. Der Glaube an die Unüberwindlichkeit 
Napoleons war so fest gewurzelt, daß man nur mit Mißtrauen die lieblich 
klingenden ersten Laute einer möglichen Befreiung vernahm. Aber die allgemeine 
Unruhe der Geister deutete schon darauf hin, daß, sobald die Schleusen geöffnet 
sein würden, der Strom der Taten sich unaufhaltsam in ein neues Bett stürzen 
werde. Da brach plötzlich wie der Ruf der letzten Posaune das 29. Bulletin 
herein in das Gewirr der Hoffnungen, Meinungen und Befürchtungen. 
Der lbergang von einer ungeheueren Größe zu einem tiefen Fall auf der einen 
Seite und der von einem sich selbst fast aufgebenden Kleinmute zur opferbereiten 
Begeisterung auf der anderen war so gewaltig, so unerwartet, daß alles einen Augen- 
blick wie erstarrt schien. Unmittelbar darauf begann jedoch die leidenschaftlichste 
Bewegung. Gerade in diese Zeit fiel meine Reise. In der Nähe von Liegnitz traf 
ich auf viele preußische Offiziere, die aus den Marken kamen und sich zur 
schlesischen Armee begaben. Es hieß überall, der König werde bald von Berlin 
dahin kommen. 
Als ich mich meiner heimatlichen Gegend näherte, erwartete mich ein anderes 
Schauspiel. Ich kam zum Teil in den Rückzug der französischen Armee hinein. 
Doch nein! dies ist ein unrichtiger Ausdruck. Ich sah Trümmer dieser Armee, die 
nicht mehr bestand, in der kläglichsten, ja entsetzlichsten Verfassung. 
Es war schon Abend, als ich mit der Post nach Neustädtel kam, anderthalb 
Meilen von Freistadt, wohin ich eine Fuhre nehmen wollte. In dem großen 
Wirtshause, wo sich zugleich die Posthalterei befand, war mir der Wirt bekannt. 
Ich trat halb erstarrt bei ihm ein und wurde freundlich empfangen. Das Haus 
wimmelte von Franzosen in dem kläglichsten Aufzuge. Der brave Mann, der mich 
von Kindheit auf kannte, nahm mich bei der Hand und sagte: „Kommen Sie nur, 
Eduard, ins Stübel zur Mutter, und wärmen Sie sich erst aus.“ Nachdem ich mich 
bei den guten Leuten etwas erholt hatte, trat der Wirt mit bedeutsamer Miene 
wieder herein und sagte: „Nun kommen Sie einmal mit hinüber. Wollen Sie 
die Racker, die Franzosen, sehen? Jetzt können sie daliegen und mucksen nicht, 
sonst taten sic nur die Leute schinden!“ — Ich vermag den eigentlichen Grimm 
und Hohn nicht wiederzugeben, der in der Stimme des Mannes lag, welcher 
sonst gutmütig und bieder war. So tief aber hatte der Haß gegen die Dränger 
schon gefressen, daß selbst sonst Wohlgesinnte sich bei ihrem Falle einer mitleids- 
losen Schadenfreude hingaben. 
Wir traten in die große Wirtsstube. Sie war spärlich erleuchtet. Auf den 
Bänken und auf der Diele lagen, teils in Lumpen gehüllt, jene stolzen Krieger, 
die ich vor etwa acht Monaten im Siegesglanze hatte nach Rußland ziehen sehen. 
Auf der Bank, die in Schlesien den großen Kachelofen umgibt, lagen, in Schaf- 
pelze gehüllt, wie sie die polnischen Bauern tragen, mehrere franzöfische Generale, 
die Glieder erfroren, in Ekel erregende Lumpen gewickelt. Die Gesichter dieser 
Unglücklichen hatten einen Schauder erregenden, leichenähnlichen Ausdruck. Ob- 
gleich sie jetzt schon fern von dem Schauplatze des Unheils und Grausens waren, 
so verrieten ihre unsicheren Blicke doch die tief eingewurzelte Scheu des zum Tode 
matt gehetzten Wildes, das seine Dränger auf seiner Fährte weiß. Man erzählte 
sich, daß der bloße Name „Kosak“ ganze Häuser plötzlich von den eingedrungenen
	        
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