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Er ritt nun die Hainstraße herunter, konnte jedoch das Ranstädter Tor nicht
passieren, denn ununterbrochen ging ein dichter Zug Fliehender durch dieses Tor,
den auch Napoleon nicht zu durchbrechen vermochte. Er sah sich zur Umkehr ge-
nötigt und ritt mit seinem Gefolge durch die große und kleine Fleischergasse, die
Klostergasse, die Burgstraße und Schloßgasse zum inneren Peterstore hinaus und
dann um die Stadt herum am Schlosse und an Reichels Garten vorüber auf den
Ranstädter Steinweg, welchen er nur mit Mühe passieren konnte.
Der dichte Zug der Fiehenden wurde der Stadt in mehr als einer Hinsicht
nützlich, denn es entfernten sich mit ihm nicht nur viele Verwundete und Kranke,
sondern dieser Zug machte auch den Franzosen unmyglich, die vielen Zentner
Pech, die ihnen am 19. früh geliefert werden mußten und mit denen die Häuser
des Runstädter Steinwegs und Mählgrabens in Brand gesteckt werden sollten, der
Ab-rlcht gemäß zu gebrauchen. Die Fliehenden rannten die mit den Pechtonnen
beladenen Wagen an der Postsäule vor dem Ranstädter Tore um, und so blieb
das Pech zu unserem Glücke denn doch unbenutzt liegen.
Auch die Sprengung des inneren Grimmaischen Stadttores und alles not-
wendig damit verbundene Unglück wurde durch bloßen Zufall verhindert. Der bei
hiesiger Polizei angestellte Leutnant Püschel hatte zufällig bemerkt, daß unter der
Brücke am Grimmaischen Tore ein ganzer Berg von Patronen und Pulver lag.
Die nahe schreckliche Gefahr beachtend, sobald nur eine Kugel in das Pulver fiel,
tat Püschel beim Rathause davon Anzeige, und es wurden eiligst, aber in der
Stille zwei Chaisenträger mit der Weisung abgeschickt, von der Torwache un-
bemerkt, von beiden Seiten des Zwingers unter die Brücke zu steigen und den
ganzen Palvervorrat in den unter der Brücke weggehenden Wassergraben zu
werfen. Kaum war diese Arbeit beendet, so fielen sehr viele Schüsse auf das
Geimmaische Tor.
Dies war auch der Fall in anderen Gegenden der Stadt, und mehrere
Häuser auch am Murkte wurden durch Kanonenkugeln und Granaten beschädigt.
Von Minute zu Minute wuchs die Gefahr und unsere Angst; aber es wurde
nun auch an hiesiger Sladt offenbar: Wenn die Not am größten, ist die Hilfe am
nählten. Denn ½1 Uhr mittags ertönten die Schlachthörner der Preußen zum
Geimm#schen Tore herein nach dem Murkte zu, und die auf allen Straßen der
Stadt wie schrues Wild fliehenden Franzosen dachten an keinen Widerstand mehr.
Ir frohem G#Fühle ihrer Rettung zollten die Bewohner Leipzigs Gott Millionen
Freudentränen als Dankopfer. Und um so ungetrübter flossen die Tränen, als sehr
viele die nahe und große Gefahr nicht kannten, die noch immer über uns schwebte.
Die Franzosen hatten die Brücke am äußeren Ranstädter Tore gesprengt, und
wahrscheinlich war dadurch das Feuer veranlaßt worden, das am Ende des Mühl-
grabens drei Häuser in Asche legte. Im Eifer des Verfolgens der Franzosen
hatten sich nun aber Kanonen und Pulverwagen auf dem Ranstädter Steinwege
so verfahren, daß besonders wegen der dort liegenden vielen zerbrochenen Wagen,
auch wahrer Haufen toter Menschen und Pferde ein Entwirren dieses Knäuels
unmöglich war, und fiel nur ein Funken aus den kaum zwanzig Schritt entfernt
brennenden Häusern auf einen Pulverwagen, so war nicht nur die Ranstädter
Vorstadt, sondern da sich an diesen Knäuel Reihen von Pulverwagen um die
Stadt herum anschlossen, vielleicht die ganze Stadt verloren.
Am 20. Oktober früh um 6 Uhr war endlich die Notbrücke am äußeren Ran-
städter Tore fertig. Die dort stehenden Pulverwagen konnten die Stadt verlassen,