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wissermassen Bedenkzeit gegeben werden soll, ist nicht
ersichtlich. Liegt es doch in der Hand jeder der beiden
Versammlungen, die Beratung über die Gesetze so ein-
gehend wie nur möglich zu gestalten, bezw. die end-
gültige Beschlussfassung nach Belieben hinauszuschieben.
Es wäre ein Zeichen bedauernswerter Unentschlossenheit
für die betreffende Versammlung, wenn sie, nachdem sie
dem Gesetzentwurfe ihre Zustimmung erteilt, die über-
einstimmenden Beschlüsse beider Versammlungen dem
Kaiser hat zustellen und von diesem ausfertigen und ver-
kündigen lassen, schliesslich ihre Handlungsweise doch
noch bereute, und das Inkrafttreten des Gesetzes gewisser-
massen vor Tores Schluss vereiteite. Ich meine, ein
solches Verhalten des Bundesrats oder des Reichstags
hat die Reichsverfassung, als sie in Art. 2 die Vorschriften
über die Verbindlichkeit der Gesetze gab, nicht als wahr-
scheinlich, geschweige denn als das Normale vorsehen
wollen.
Es ist nun wiederholt vorgekommen, dass das als
Gesetz Verkündete infolge von Versehen mannigfacher
Art schliesslich einen Wortlaut erhalten hat, der dem von
den Gesetzgebungsfaktoren gewollten Sinne nicht ent-
sprach. So ist es vorgekommen bezw. denkbar, „dass
bei der Beurkundung einer von dem Verfasser des Gesetz-
entwurfs oder von einem Gesetzgebungsfaktor vorge-
schlagenen Bestimmung ein Verschreiben, Verdrucken
stattfindet und auf diese Weise formell die fehlerhafte
Bestimmung die Zustimmung einiger oder sämtlicher Ge-
setzgebungsfaktoren erhält, ohne dass dieselbe inhaltlich
gewollt ist. Möglich ist es ferner, dass zwar ursprünglich
die Niederschrift der als Gesetz gedachten Bestimmung
durchaus dem gesetzgeberischen Willen entspricht, dass
jedoch durch die in einem späteren Stadium des Werde-
ganges des Gesetzes vorgenommene Aenderung einer
anderen Gesetzesbestimmung zugleich eine Verschiebung
der Bedeutung der ersteren Bestimmung bewirkt wird,
ohne dass diese Verschiebung dem Gesetzgeber zum Be-
wusstsein kommt.‘ Auch „kann bei der Schlussfeststellung
des Gesamtresultats der gesetzgeberischen Arbeiten ein