Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

B. Die Organisation des Reichs. III. Der Reichstag. 345 
der Bundesrat auf Anrufen des einen Teiles zu ‚‚erledigen‘‘. (RV. Art. 76 Abs. 1.) 
Der Bundesrat kann den Streitfall entweder selbst schlichten oder die Ent- 
scheidung einem Gerichtshofe übertragen. Endlich hat der Bundesrat ‚Ver- 
fassungsstreitigkeiten‘‘ in solchen Bundesstaaten, in denen nicht eine 
Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, auf Anrufen 
eines Teiles gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der 
Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen. Ob der Bundesrat auch zu- 
ständig ist, Streitigkeiten über Thronfolge und Regentschaft zu entscheiden, 
ist bestritten. Der Bundesrat hat sich auf Grund des Art. 76 Abs. I sowohl 1885 
in der Braunschweigschen als auch 1898 in der Lippeschen Thronfolgesache 
für zuständig erklärt. Aber auch wenn man Art. 76 nicht für anwendbar hält, 
ergibt sich die Zuständigkeit aus dem bundesstaatlichen Verhältnis selbst; denn 
niemand kann in einem deutschen Staate Landesherr sein, der nicht als Mitglied 
des Bundes anerkannt ist und diese Anerkennung kann nur einheitlich von 
der Gesamtheit der Staaten erteilt oder versagt werden, für eine Gesamterklärung 
der Bundesstaaten gibt es aber kein anderes Organ als den Bundesrat und keine 
andere Form als einen Beschluß desselben. 
Der Vorsitz im Bundesrate und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichs- Geschätts- 
kanzler zu, welcher sich durch schriftliche Substitution durch jedes andere Mit- “"""# 
glied des Bundesrats vertreten lassen kann. Bayern hat die Zusicherung er- 
halten, daß, wenn kein preußischer Bevollmächtigter den Vorsitz führt, ein 
bayrischer damit betraut werden soll. Jedes Bundesmitglied ist befugt, Vor- 
schläge zu machen und in Vortrag zu bringen, und das Präsidium ist verpflichtet, 
dieselben der Beratung zu übergeben. Die Beschlußfassung erfolgt regelmäßig 
mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen; im Falle der Stimmengleich- 
heit gibt die Präsidialstimme d.h. Preußen den Ausschlag. Veränderungen 
der Verfassung sind abgelehnt, wenn sie 14 Stimmen gegen sich haben. (Art. 78 
Abs. 1.) Gesetzesvorschläge über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die 
im Art. 35 der RV. bezeichneten Abgaben, sowie Beschlüsse über Verwaltungs- 
vorschriften und Einrichtungen, welche zur Ausführung der erwähnten Zoll- 
und Steuergesetze dienen, können nur mit Zustimmung Preußens gefaßt werden. 
(Art. 7 Abs. 3.) Im übrigen hat der Bundesrat seine Geschäftsordnung selbst 
zu beschließen. Aus der Mitte des Bundesrats werden Ausschüsse gebildet; Ausschüsse. 
sie sind teils in der RV. angeordnet, teils werden sie vom Bundesrat eingesetzt. 
Die Zusammensetzung erfolgt von Jahr zu Jahr durch Wahl des Bundesrats; 
nur der Ausschuß für das Landheer und die Festungen und derjenige für das 
Seewesen werden vom Kaiser ernannt. Die Geschäfte der Ausschüsse bestehen 
hauptsächlich in der Abfassung der Berichte an den Bundesrat; jedoch sind 
durch spezielle Anordnungen der RV. und der Reichsgesetze einzelnen Aus- 
schüssen gewisse Angelegenheiten zur selbständigen Erledigung zugewiesen. 
III. Der Reichstag. Der Reichstag unterscheidet sich seinem Wesen wabirecht. 
und seiner Stellung nach von anderen Volksvertretungen nicht; die Bestim- 
mungen der RV. über den Reichstag sind der Preußischen Verfassungsurkunde
	        
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