* Deutschland und das Weltstaatensystem 9
Es ist ein Regierungssystem, das nicht in erster Linic das Behagen
und die Glückseligkeit der Einzelnen im Auge hat, sondern die Macht
und Größe des Staates, weil ohne diese auch die allgemeine Wohl-
fahrt nicht als gesichert erscheinen kann. Es hat die verhältnismäßig
große stehende Armee zum Bückgrat einer Staatsverwaltung gemacht,
die jeden Mann und jeden Groschen in acht nimmt, die Selbstverleug-
nung, Ordnung und Gewissenhaftigkeit auch im bürgerlichen Leben ver-
breitet und die Staatsbürger eher daran gewöhnt hat, ihre politischen
Pflichten zu erfüllen, als auf Vermehrung ihrer politischen Rechte be-
dacht zu sein. Es hat die geistige Freiheit des Individuums früher ge-
währleistet als irgendeine andere curopdische Regierung; das „Allge-
meine Landrecht“ des Preußischen Staates, das in der Epoche der ameri-
kanischen Unionsverfassung und der französischen Revolution entstanden
ist, enthält bereits eine grundgesetzliche Garantie der wichtigsten persön-
lichen Freiheitsrechte, wie Religionsfreihcit, Freihcit der Person und
Sicherheit des Eigentums gegen ungesetzliche administrative Eingriffe;
nur daß es sich hier nicht um die Proklamation allgemeiner Men-
schenrechte handelt, sondern um die selbstverständliche Kodifikation von
Beschränkungen, die sich die Staatsgewalt gegenüber ihren Untertanen
im Zeitalter der Aufklärung freiwillig auferlegt hatte. Volksaufklärung
und Unterricht sind unter dem System des preußischen Militarismus
dermaßen gefördert worden, daß Preußen heute so gut wie keine An-
alphabeten hat und ebenso wie die übrigen deutschen Staaten in dieser
Beziehung allen großen Ländern der Welt vorangeht, ganz besonders
auch Frankreich und England, von Rußland ganz zu schweigen. Dieses
Regierungssystem hat, weil es, bei allem Zwang zu Ordnung und Pflicht-
erfüllung, der Idce der wahren Freiheit keineswegs feind war, den
Abergang vom aufgeklärten Absolutismus zum modernen Verfassungs-
staat mit parlamentarischer Kontrolle, mit Preß= und Vereinsfreiheit,
mit einer gesunden lokalen Selbstverwaltung sehr gut vertragen; es
hat den Grundsatz der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit durchgeführt;
es hat in viel stärkerem Maße, als man gewöhnlich annimmt, die For-
derung des Staatskanzlers Hardenberg von 1807 verwirklicht: „demo-
kratische Institutionen unter einer monarchischen Regierung“; aber es
widerstrebt allerdings einer Umformung, welche die Regierung in die
Hand wechselnder Majoritäten bringen und das Heer den korrumpieren-
den parlamentarischen Einflüssen ausliefern würde; das gilt von
Dentschland wie von Preußen. Mag Frankreich solche Experimente
machen: wir befinden uns in einer zu stark gefährdeten Stellung, als
daß uns ein solcher Versuch gestattet wäre.