Full text: Deutschland und der Weltkrieg.

  
188 Gustav v. Schmoller 
  
den letzten Jahrhunderten einen militärstaatlichen Typus annahm, ein 
Land ohne bürgerliche Freiheit geworden, ohnc konstitutionelle Ver- 
fassung geblieben. Es unterscheidet sich gewiß wesentlich von Frank- 
reich, England und der nordamerikanischen Union. Es hat keine parla- 
mentarische Regierung, d. h. keine Herrschaft der Parlamentsmajorität 
über die höchsten Amter; aber die bürgerliche Freiheit gegen Willkür 
der Staatsbehörden ist ebenso oder besser geschützt als irgendwo. 
Was versteht man überhaupt unter politischer Freiheit, die uns 
fehlen soll? Vor allem zweierlei: 1. einen gewissen Einfluß des Volkes 
auf die Regierung, auf die Gesetzgebung und auf die Grundzüge der 
äußeren und inneren Politik, und 2. einen gesicherten Schutz freieren 
Handelns der Bürger in Glaubens= und Religionssachen, im Familien- 
leben, in der Meinungsäußerung in Literatur und Presse, im wirtschaft- 
lichen Privatleben, in der Bildung von Vereinen, Versammlungen usw. 
Jeder Kulturstaat muß heute durch gewisse Gesetze auch in diese Gebicte 
cingreifen. Aber er soll es mit Takt und Vorsicht tun, die Gesetze un- 
parteiisch handhaben; Gericht und Verwaltung sollen streng gesetzmäßig 
handeln. 
Vor allem soll bei der Bildung der Regierungshandlungen wie bei 
der Abgrenzung der individuellen Freiheitssphäre gegen Regierungs- 
macht und Regierungswillkür eines vermieden werden: Klassenherr- 
schaft und Klassenmißbrauch. Oder vielmehr, da dies niemals ganz ge- 
lingen wird: es soll, soweit es irgend geht, der Klassenmißbrauch durch 
die Gesetze möglichst eingeschränkt werden. Und da die Kulturstaaten seit 
200 bis 300 Jahren eine ganz neue Klassenbildung mit den stärksten An- 
sätzen zu Klassenmißbrauch und Klassenherrschaft erlebten, so ist vielfach 
die Kernfrage der neueren inneren Staatsentwicklung die: wo, mit 
welchen Staatsformen und Staatseinrichtungen, mit welchen Gesetzen 
gelang es am besten, die Verelendung der unteren Klassen zu hindern, 
die Mißbräuche der herrschenden Klassen zu beschränken? Und cs kann 
keinem Zweifel unterworfen sein, daß zwar der fürstliche Despotismus in 
Altertum und Mittelalter vielfach starke Klassenmißbräuche kannte und 
förderte, daß aber der aufgeklärte Despotismus sowie der Militär= und 
Beamtenstaat des 18. und 19. Jahrhunderts sie wesentlich einschränkte. 
Und ebenso sicher ist, daß die Demokratisicrung der Verfassungen zwar 
auf Abschaffung der Klassenmißbräuche hoffte, ja sie sicher versprach, daß 
aber heute nicht notwendig, nicht in allen Staaten, aber doch in vielen, 
jede Steigerung der Demokratisierung zugleich eine solche der Klassen- 
mißbräuche brachte. Es hing das wesentlich ab von dem moralischen und 
politischen Mivean, das die oberen Klassen bei Erreichung größerer
	        
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