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der Menschen nicht eine Folge der Erfahrung und Erziehung, sondern
eine Folge der ungleichen körperlichen Veranlagung und insbesondere
der ungleichen Entwicklung des Gehirns.
Der anständige Mensch kann aus Mangel an Einsicht und Er-
fahrung unrichtig handeln; diese Handlung kann auch nachteilig für
seine Mitmenschen sein. Er handelt aber im guten Glauben, und dieses.
ist allein das Charakteristische für seine Honorigkeit und für seine ge-
sunde Veranlagung. Der unanständige Mensch sucht hingegen seine
Mitmenschen bewußt und absichtlich zu schädigen, wobei er je den Um-
ständen nach mit Lüge, Täuschung, Betrug, Verleumdung usw. arbeitet.
Daß letzteres ein Zeichen schlechter Veranlagung ist, und daß es auf
eine mangelhafte Entwicklung des Gehirns zurückgeführt werden muß,
beweist uns auch die Kriminalität, die bei der Beurteilung der Schlech-
tigkeiten die erbliche Belastung als mildernden Umstand gelten läßt.
In der Reihe der Entwicklung nimmt das Empfinden mit dem
organisierten Leben seinen Anfang, d. h. dort, wo die Reaktion physischer
und chemischer Kräfte über die Komponenten auf eine resultierende
Zentralkraft wirkt. Jede Veränderung der Komponenten muß not-
wendig eine solche der Resultierenden mit sich bringen, und letztere Ver-
änderung ist gewissermaßen ein subjektives Reagieren auf eine objektive
Einwirkung.
Das Wesentliche der Materie ist aber, wie ich noch einmal wieder-
holen will, ihr entwicklungsfähiges Empfindungsvermögen. In den
einfachen und zusammengesetzten Elementen äußert sich dieses in den
chemischen und physikalischen Kräften; es hat aber die Eigentümlichkeit,
daß es auch resultierende Kräfte bilden und entwickeln kann, die sich
in den höheren Formen als geistige Kräfte äußern, und die im Menschen
selbst auch Vorstellungs= und Denkvermögen haben. Nur in dieser
Weise läßt es sich erklären, daß räumliche Bewegung ohne metaphysische
Hilfsmittel in Vorstellen und Denken übergehen kann.
Nimmt man den körperlichen Dualismus mit Körper und Seele,
oder nimmt man den des Cartesius mit denkender und ausgedehnter
Substanz, oder nimmt man mit Spinoza und den modernen Monisten
eine Substanz mit zwei Attributen oder einer materiellen und einer
parallel denkenden Seite an, so läßt sich mit keiner dieser Weltanschau-
ungen die Natur mit ihren körperlichen und geistigen Außerungen rest-
los erklären. Es läßt sich nicht erklären, wie bei den höheren Formen
Geistiges auf Körperliches und umgekehrt wirkt, d. h. wie die wechsel-
seitige Kausalität ohne übersinnliche Hilfsmittel zustande kommt, oder
wie sie überhaupt möglich ist. Die Annahme des Monismus, daß das
Geistige nur eine zufällige und untergeordnete Begleiterscheinung des
Körperlichen ist, läßt eine wechselseitige Kausalität und mit dieser
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