Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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einigen, so finden wir dieselbe Menge Wasser wieder, und zwar 
empfinden wir sie wieder als dieselbe, wenn wir uns der Wage als 
Hilfsmittel dabei bedienen. Gerade durch Hilfsmittel wie Wage und 
Fernrohr wird unsere Empfindung nicht verändert, sondern nur er- 
weitert. Und die Tatsache, daß nicht nur wir, sondern jeder Beliebige 
ein Experiment unter denselben Bedingungen wiederholen und zu den- 
selben Resultaten kommen kann, macht eine Feststellung zu einer all- 
gemeinen und notwendigen, d. h. gesetzmäßigen. Anderseits beweist 
es uns. aber auch, daß unser Empfindungsvermögen in der Art gleich 
und unveränderlich ist. Diese Unveränderlichkeit des Empfindungs- 
vermögens wird bei aller Naturforschung vorausgesetzt, sie ist aber auch 
der Grund, daß die Empfindung direkt über das Studium von körper- 
licher Ursache und Wirkung nie hinaus kann, womit aber das Ding an 
sich nicht ergründet werden kann. 
Anderseits ist das Empfinden der Unveränderlichkeit des. 
Empfindungsvermögens das einzige Beharrungsprinzip in der Welt. 
Und dieses ist sehr wichtig, denn es berechtigt uns allein, über unsere 
räumliche und zeitliche Empfindungsgrenze hinauszugehen. 
Unsere Empfindung hat uns dabei gezeigt, daß innerhalb unserer 
räumlichen und zeitlichen Empfindungsgrenzen die Welt eine einheit- 
liche Fortsetzung ist; wir können deshalb nicht nur die Folgerung ziehen, 
daß sie eine solche auch außerhalb dieser Grenzen ist, sondern daß das 
Weltganze überall von einer solchen Empfindung beherrscht ist, wie wir 
sie kennen. Wir können deshalb ruhig von uns auf das Weltganze 
schließen und von einer Weltempfindung sprechen, der wir ähnlich sind 
und deren Substrat oder Träger die Substanz und die Organe des 
Weltalls sind. 
Während wir uns aber als Teil am Ganzen empfinden, kann sich 
umgekehrt das Ganze an seinen Teilen empfinden. Da das Weltall 
aber nicht an Raum= und Zeitgrenzen gebunden ist, sondern sich in jeder 
Beziehung erschöpfend empfindet, so ist das Weltempfinden voll und 
ganz ein Welterkennen. Der Welt als Ganzes kann man somit auch 
von unserem materialistischen Standpunkt einen dualistischen Charakter 
zuerkennen, der allerdings auch für diese nur im Sichselbsterkennen be- 
steht. Anderseits kann man auch zu einem mit der Wissenschaft ver- 
träglichen Gottesbegriff kommen, nach dem wir sogar unserem Gott 
qualitativ ähnlich sind. 
Nachdem wir in der Empfindung der Unveränderlichkeit unseres 
Empfindungsvermögens ein Kriterium für ein Beharrungsprinzip in 
der Welt, sowie für die Naturgesetzmäßigkeit der materiellen Erschei- 
nungen gefunden haben, können wir versuchen, mit diesem Prinzip 
auch den a priori-Begriffen Kants gerecht zu werden. Für eine