Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit, 
so wird man finden, daß auf der untersten Stufe einfach nur ein ein- 
facher Kommunismus, d. h. lediglich ein gesellschaftlicher Kampf ums 
Dasein stattgefunden hat. Bei der geringsten Gliederung in Klassen 
hat dieser eine fundamentale Umänderung erfahren und zwar dadurch, 
daß die Bevorzugten ihre Stellung verteidigen mußten, und daß andere 
danach streben konnten, zu den Bevorzugten zu gehören. Mit anderen 
Worten: Neben dem gesellschaftlichen Kampf ums Dasein hat innerhalb 
der Gesellschaft selbst ein Kampf um das gesellschaftliche Dasein stattge- 
funden. Dieser Kampf um das gesellschaftliche Dasein soll im Prinzip 
ein Kampf ums Bessersein bedeuten. Daß er dieses nicht immer voll und 
ganz ist, sondern daß das Bessersein häufig ein Besserscheinen ist, 
das liegt nicht an der Mangelhaftigkeit des Prinzips in seinen Auße- 
rungen und Folgerungen, sondern an der Unvollkommenheit der 
Menschen, denen es noch an Einsicht und Erfahrung fehlt, das für sich 
und seine Nachkommen allein Richtige und Zweckmäßige zu tun. 
Der Kampf um das gesellschaftliche Dasein setzt die Ungleichheit 
innerhalb der Gesellschaft voraus. Die Ungleichheit ist aber nicht eine 
solche der wirtschaftlichen Stellung, sondern eine solche der Köpfe, 
d. h. eine Ungleichheit der geistigen Anlagen, der Bildung und des 
Intellekts. Die korrespondierende Ungleichheit der wirtschaftlichen 
Stellung ist nur die Wirkung der geistigen und nicht umgekehrt. 
Faßt man die Wirkung ins Auge, die die geistige und wirtschaft- 
liche Ungleichheit mit ihrem Kampf um das gesellschaftliche Dasein her- 
vorbringt, so läßt sich nicht übersehen, daß diese darin besteht, nicht nur 
seine soziale Stellung zu behaupten, sondern zu verbessern. Dieser Kampf 
veranlaßt also den Menschen nicht durch Zwang und bittere Notwen- 
digkeit, sondern aus sich selbst das herauszuholen, was möglich ist. Die 
Folge davon ist der riesige Fortschritt, dessen sich unser Wirtschaftsleben 
und mit ihm unsere Kultur in den letzten Jahrzehnten zu erfreuen hatte. 
Die Ungleichheit im obigen Sinne ist also in der gegenwärtigen 
Epoche der Menschheitsentwicklung das Fortschrittsprinzip überhaupt. 
Sie erhält eine Zugkraft im Menschen lebendig, die in ihrer Wirkung 
von einem unermeßlichen Wert für die ganze Menschheit überhaupt ist. 
Aber nicht nur in den unteren Klassen, wirkt diese Zugkraft, daß sie 
wertvolle Elemente in höhere bringt, sondern auch in den oberen, die 
ihre Stellung gegen die Anstürmenden verteidigen müssen. 
Wenn die oberen Klassen auch zum Teil mit den gegenwärtigen 
Verhältnissen zufrieden sind und die Meinung vertreten, sie in ihrer 
geistigen und körperlichen Verfassung seien der Gipfelpunkt der mensch- 
lichen Entwicklung, die sie nun als abgeschlossen betrachten und die sie 
nun mit allen politischen Mitteln in ihrem gegenwärtigen Stadium