34
in Deutschland nur ein Teil der Intelligenz und solche, die dazu gehören
wollen, anhängen, sind in Frankreich auch die unteren Kreise durchweg
von ihr durchdrungen. Das heißt, auch diese Kreise sind innerlich mit
der Kirche zerfallen, wenn sie auch schließlich aus Gewohnheit und Be-
quemlichkeit den Außerlichkeiten derselben noch anhängen. Sie be-
zeugen damit eine Weltanschauung, die im Idealismus der Kirche nicht
mehr wurzelt und die den Materialismus der Philosophie noch nicht
begriffen hat. Dieses dauernde Pendeln zwischen Unzulänglichkeiten
in der Weltanschauung ist das Charakteristikum der Franzosen. Ihr
reger Geist und ihre leichte Auffassungsgabe lassen sie auf der einen
Seite an den Wahrheiten der Kirche zweifeln, auf der anderen Seite
hindert sie aber ihre geistige Bequemlichkeit und ihre Oberflächlichkeit
an einem gründlichen Studium der Philosophie.
Durch den innerlichen Verfall mit der Kirche haben die Franzosen
den Vorteil, daß es weltbürgerliche Bestrebungen für sie theoretisch nicht
gibt; da es bei ihnen anderseits auch keine partikularistische gibt, so find
sie als Nation immerhin schon lange ein einheitliches Ganzes, in dem bei
der auskömmlichen Lebenshaltung aller Kreise, bei der Gedankenfreiheit
und der Freiheit des Sichgehenlassens auch die weltbürgerlichen Be-
strebungen der internationalen Sozialdemokratie praktisch spurlos vor-
über gegangen sind. In diesem Sinne kann man es verstehen, daß der
Franzose von sich und seinem Vaterlande in maßloser Weise einge-
nommen ist und daß er die Kultur anderer Länder um so niedriger ein-
schätzt, je weniger er bei seiner mangelhaften Bildung von ihnen kennt.
Immerhin ist der Franzose der unteren Kreise kein gedankenloser pa-
triotischer Mitläufer, sondern auch innerlich ein selbstbewußter und
leidenschaftlicher Chauvinist, der allerdings bei seinem lebhaften Tem-
perament und bei seiner mangelhaften Einsicht und Urteilsfähigkeit
leicht der politischen Phrase und mit dieser der politischen Verdummung
und Verführung zugänglich ist.
Die in gewissen Grenzen erreichte Sorglosigkeit des irdischen
Daseins in den unteren Kreisen hat in Frankreich eine Zufriedenheit
zuwege gebracht, die als Erbteil der romanischen Rasse sogar größten-
teils auf Anspruchslosigkeit zurückzuführen ist. Eine Zufriedenheit, die
sich weder nach körperlicher noch nach geistiger Regsamkeit drängt und
die sicher das stagnierende Moment in der französischen wirtschaftlichen
Entwicklung ist.
Anderseits ist das Streben nach Zufriedenheit mit dem irdischen
Dasein die Ursache des Ein= und Zweikindersystems, das sich in Frank-
reich zu einer nationalen Gefahr ausgewachsen hat. Auch in anderen
Ländern mit höherer Kultur grassiert diese Krankheit in den Ständen
mit gehobener Lebensweise. Hier sind aber immer noch große Kreise