Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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in Deutschland nur ein Teil der Intelligenz und solche, die dazu gehören 
wollen, anhängen, sind in Frankreich auch die unteren Kreise durchweg 
von ihr durchdrungen. Das heißt, auch diese Kreise sind innerlich mit 
der Kirche zerfallen, wenn sie auch schließlich aus Gewohnheit und Be- 
quemlichkeit den Außerlichkeiten derselben noch anhängen. Sie be- 
zeugen damit eine Weltanschauung, die im Idealismus der Kirche nicht 
mehr wurzelt und die den Materialismus der Philosophie noch nicht 
begriffen hat. Dieses dauernde Pendeln zwischen Unzulänglichkeiten 
in der Weltanschauung ist das Charakteristikum der Franzosen. Ihr 
reger Geist und ihre leichte Auffassungsgabe lassen sie auf der einen 
Seite an den Wahrheiten der Kirche zweifeln, auf der anderen Seite 
hindert sie aber ihre geistige Bequemlichkeit und ihre Oberflächlichkeit 
an einem gründlichen Studium der Philosophie. 
Durch den innerlichen Verfall mit der Kirche haben die Franzosen 
den Vorteil, daß es weltbürgerliche Bestrebungen für sie theoretisch nicht 
gibt; da es bei ihnen anderseits auch keine partikularistische gibt, so find 
sie als Nation immerhin schon lange ein einheitliches Ganzes, in dem bei 
der auskömmlichen Lebenshaltung aller Kreise, bei der Gedankenfreiheit 
und der Freiheit des Sichgehenlassens auch die weltbürgerlichen Be- 
strebungen der internationalen Sozialdemokratie praktisch spurlos vor- 
über gegangen sind. In diesem Sinne kann man es verstehen, daß der 
Franzose von sich und seinem Vaterlande in maßloser Weise einge- 
nommen ist und daß er die Kultur anderer Länder um so niedriger ein- 
schätzt, je weniger er bei seiner mangelhaften Bildung von ihnen kennt. 
Immerhin ist der Franzose der unteren Kreise kein gedankenloser pa- 
triotischer Mitläufer, sondern auch innerlich ein selbstbewußter und 
leidenschaftlicher Chauvinist, der allerdings bei seinem lebhaften Tem- 
perament und bei seiner mangelhaften Einsicht und Urteilsfähigkeit 
leicht der politischen Phrase und mit dieser der politischen Verdummung 
und Verführung zugänglich ist. 
Die in gewissen Grenzen erreichte Sorglosigkeit des irdischen 
Daseins in den unteren Kreisen hat in Frankreich eine Zufriedenheit 
zuwege gebracht, die als Erbteil der romanischen Rasse sogar größten- 
teils auf Anspruchslosigkeit zurückzuführen ist. Eine Zufriedenheit, die 
sich weder nach körperlicher noch nach geistiger Regsamkeit drängt und 
die sicher das stagnierende Moment in der französischen wirtschaftlichen 
Entwicklung ist. 
Anderseits ist das Streben nach Zufriedenheit mit dem irdischen 
Dasein die Ursache des Ein= und Zweikindersystems, das sich in Frank- 
reich zu einer nationalen Gefahr ausgewachsen hat. Auch in anderen 
Ländern mit höherer Kultur grassiert diese Krankheit in den Ständen 
mit gehobener Lebensweise. Hier sind aber immer noch große Kreise