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Die Günstlingswirtschaft mußte in Rußland um so folgen-
schwerer werden, als nach Peter d. Gr. der Zarismus im Unterrock für
eine geraume Zeit zur Geltung kam. In dieser Zeit bekamen Günst-
linge den größten Einfluß dadurch, daß sie die Liebhaber dieser nicht
gerade sehr sittenstrengen Herrscherinnen waren. Um in der Gunst
eines Zaren hochzukommen, war immerhin noch ein gewisses Maß von
geistiger Regsamkeit und staatsmännischer Veranlagung erforderlich,
das allerdings durch Selbstbewußtsein und vornehme Gesinnung nicht
beeinträchtigt sein durfte. Für die Gunst einer Zarin war dies alles
aber von untergeordneter Bedeutung; hier kam es vor allen Dingen
darauf an, dem Geschmack und der Sinnlichkeit dieser Weiber zu ent-
sprechen. War dieses der Fall, so waren ihrer Willkür keine Schranken
gesetzt und sie mußten in einem Lande wie Rußland um so mehr
erreichen, je niedriger ihre Gesinnung war.
Die letzte dieser Herrscherinnen war Katharina II., die Schlosser
als die Semiramis des Nordens bezeichnet. Diese, von Geblüt eine
Deutsche — ihre Wiege hat in Zerbst-Anhalt gestanden —, hat die Er-
oberungspolitik in großzügiger Weise mit viel Erfolg fortgesetzt. Für
die fortschrittliche Entwicklung im Innern hat sie aber ebensowenig
etwas geleistet als ihre Vorgänger. Immerhin wurde das Reich in-
solge der erfolgreichen Außenpolitik trotz des kulturellen Rückstandes
ein bedeutender Faktor in der europäischen Politik. Und als Napoleon
des I. Macht an der Größe und Unkultur Rußlands zerschellte und
ihm den Untergang vorbereitete, da wurde es in der Folge unter einem
diplomatisch nicht ungeschickten Zaren sogar zu dem ausschlaggebenden
Faktor der politischen Bestrebungen des europäischen Kontinents. Er-
leichtert wurde dieses durch Uneinigkeit der durch den Krieg geschwächten
westlichen Nachbarn, und daß in Deutschland und Österreich die ein-
setzende Reaktion in der russischen Rückständigkeit den festesten Rück-
halt finden konnte.
Wenn auch die russische Expanfionspolitik im großen ganzen nach
dem Westen gravitierte, so blieb doch das Endziel aller Bestrebungen
und Wünsche der Besitz Konstantinopels; alle anderen Eroberungen
galten ihr nur als Etappen zu diesem Ziel. Konstantinopel als Aus-
gangs= und lange Zeit Mittelpunkt ihrer griechisch-katholischen Kirche
galt ihnen im Besitz der türkischen Mohammedaner als eine religiöse
Schmach, die sie dadurch, daß auch slavische Balkanstaaten von den
Türken beherrscht wurden, zu einer panflavistischen erweiterten. In
diesem Sinne wurde die innere und äußere Politik des Zaren nicht
nur moralisch gefestigt, sondern in den Augen der Ungebildeten und
politisch rückständigen Massen geradezu geheiligt.
Bei der Eroberung Konstantinopels dreht es sich aber nicht allein