Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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uns gegenüber in die Arme unserer Gegner getrieben. Sie wollten 
verhindern, daß ein germanisches Volk die Vorherrschaft auf dem Kon- 
tinent erhalten sollte. Daß dadurch allein die politische und wirt- 
schaftliche Entwicklung der Kleinstaaten gegenüber der Ländergier 
Rußlands gewährleistet und gesichert wird, das wird teils nicht ein- 
gesehen und teils als das kleinere Übel betrachtet. Sie wollen ihre 
Freiheit nicht von einer Mächtegruppe geduldet haben, womit sie in- 
sofern recht haben, als es dann genau genommen keine Freiheit mehr 
ist, sondern sie wollen sie durch eigene Kraft gewährleistet haben, und da 
sie, um das Kräftegleichgewicht herzustellen, ihre nicht entsprechend ver- 
größern können, so versuchen sie, die andere zu verkleineren. In diesem 
Punkt kann man ihnen eine gewisse Logik nicht absprechen; es kommen 
aber noch andere Gründe dazu und zwar haben auch sie es für wahr- 
scheinlich gehalten, daß die Zentralmächte gegenüber der feindlichen 
Massenhaftigkeit ihrem Wunsch entsprechend unterliegen mußten, und 
daß sie sich nur auf gegnerischer Seite eine Beute sichern könnten. 
Schließlich ist aber auch durch englisches und französisches Geld und 
durch eine käufliche Presse und käufliche Agitatoren eine Stimmung 
hervorgerufen, die es fertig gebracht hat, auch passive und anständige 
Naturen mitzureißen. ç 
Auf keinen Fall lassen sich in Italien die Gründe, die es in den 
Krieg getrieben haben, auf wirtschaftlichem Gebiet suchen. Italien hat 
keine Exportindustrie, die Rohstoffquellen und Absatzgebiete sucht und 
die durch eine deutsche Konkurrenz beeinträchtigt wird. Italien hat 
zwar einen Bevölkerungsüberschuß, der aber ebensowenig das Bedürfnis 
nach eigenen Kolonien hat als nach landwirtschaftlicher Betätigung, die 
dafür die Bedingung ist. Italien ist ein von Natur und Geschichte sehr 
begünstigtes Land, das an die Existenzbedingungen seiner Bewohner 
keine großen Anforderungen stellt und ihnen eine heitere Sorglosigkeit 
verschaffen kann, die gerade für bildende Kunst und Musik so außer- 
ordentlich fördernd ist. Dazu kommt, daß sich alljährlich durch den 
Fremdenverkehr ein ergiebiger Goldstrom ins Land ergießt, den aus- 
zuschöpfen sich die Italiener mit viel Geschick sehr angelegen sein lassen. 
Gerade der für Italien so wichtige Fremdenverkehr hätte sie vom wirt- 
schaftlichen Standpunkt dafür interessieren müssen, den Krieg an der 
Seite der Zentralmächte so schnell wie möglich zu beenden, damit die 
Länder ohne Ausnahme wirtschaftlich nicht so sehr geschwächt werden 
und mit ihrem Vermögen dem Lande Italien auch weiter tributpflichtig 
bleiben. Die ungeheuren Werte, die der Krieg vernichtet und ver- 
schlungen hat, schränken in den nächsten Jahren den Luxus in allen vom 
Kriege betroffenen Ländern erheblich ein und zum Luxus gehört auch 
eime Reise nach Italien.