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soll; daß man die segnen soll, die einen verfluchen; und daß man denen
wohltun soll, die einen hassen; daß man überhaupt seinen Nächsten
mehr lieben soll als sich selbst. Dazu wurde berichtet, daß Christus, von
dem diese Lehre stammt, als Vorbild sich lieber hat kreuzigen lassen, als
ein mächtiger König der Juden zu werden und daß er sich hiermit als
Sühneopfer für die Sünden der ganzen Menschheit dargebracht hat,
und daß er letztere dadurch von der ewigen Verdammnis erlöst hat,
d. h. soweit sie an ihn glaubt und nach seinen Geboten handelt.
Von größter Bedeutung war es aber für die weitere Entwicklung
des Christentums, daß in Rom bei der Sittenlosigkeit und geistigen
Verflachung auch die Römer selbst nachgerade zu der Überzeugung
kommen mußten, daß die Bedeutung und der Einfluß der römischen
Götter und Gottheiten weder in belohnender noch in strafender Weise
irgendwie zu spüren war, so daß überhaupt aller Kult und was damit
zusammenhing nur noch eine leere Formsache war, die denkende und
empfindende Menschen nicht mehr erbauen und erheben konnte. Dazu
kam, daß seit längerer Zeit in Rom auch bereits die griechische philo-
sophische Bildung Eingang gefunden hatte; und zwar ist es auch hier
wie in Alexandrien zuerst hauptsächlich die Philosophie der Striker
gewesen, die in einflußreichen Kreisen einen bedeutenden Anhang ver-
zeichnen konnte.
Von der Philosophie der Stoiker, die in der Physik eine Art
Materialismus vertreten, ist es mehr oder weniger die von Sokrates
ausgehende Ethik, die besonders geeignet war, dem in Entstehung be-
griffenen römischen Weltbürgertum im Staats= und bürgerlichen Recht
eine gewisse philosophische Rechtfertigung und ethische Grundlage zu
geben. Den Stoikern galt als höchstes Gut die Tugend, die in der
Übereinstimmung des menschlichen Willens mit dem göttlichen bestand.
Zu dieser Tugend, die zur Glückseligkeit ausreichend ist, führt das von
Sokrates gelehrte Sich-selbst-erkennen und das dementsprechende Han-
deln. Die vollkommene Pflichterfüllung ist das Rechttun in der rechten
Gesinnung, wie sie der Weise besitzt, für den es demzufolge nur voll-
kommene Pflichterfüllung geben kann, d. h. aber auch, daß nur der
Weise ein vollkommener Mensch sein kann. Obwohl der Weise mo-
ralisch selbständig und frei ist, so steht er mit seinen Mitmenschen doch
in praktischer Gemeinschaft. Letzteren gegenüber übt er nicht Nachsicht
sondern Gerechtigkeit; er ist ihnen deshalb auch ein Vorbild in Näch-
stenliebe und Nächstenachtung. Ein solches Vorbild ist aber notwendig,
da alle Menschen zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen
müssen, denn sie gehören alle zusammen durch den gemeinsamen Logos,
der als der eine in allen lebt.