Full text: Die historischen Dokumente aus Deutschlands Eisernem Jahr 1914 bis 1915.

  
An das deutsche Volk. 
Ein Jahr ist verflossen, seitdem Ich das dentsche Volk zu den Waffen rufen mußte Eine unerhört blutige 
Zeit kam über Europa und die Welt. Vor Gott und der Geschichte ist Mein Gewissen rein: Ich habe den 
Krieg nicht gewollt. Nach Vorbereitungen eines ganzen Jahrzehnts glaubte der Verband der Mächte, denen 
Deutschland zu groß geworden war, den Angenblick gekommen, um das in gerechter Sache treu zu seinem öster- 
reichisch-ungarischen Bundesgenossen stehende Reich zu demütigen oder in einem übermächtigen Ringe zu erdrücken. 
Nicht Eroberungslust hat uns, wie Ich schon vor einem Jahre verkündete, in den Krieg getrieben. Als in 
den Augusttagen alle Waffenfähigen zu den Fahnen eilten und die Truppen hinauszogen in den Verteidigungs- 
kampf, fühlte jeder Deutsche auf dem Erdball, nach dem einmütigen Beispiele des Reichstags, daß für die höchsten 
Güter der Nation, ihr Leben und ihre Freiheit, gefochten werden mußte. Was uns bevorstand, wenn es fremder 
Gewalt gelang, das Geschick unseres Volkes und Europas zu bestimmen, das haben die Drangsale Meiner lieben 
Provinz Ostpreußen gezeigt. Durch das Bewußtsein des aufgedrungenen Kampfes ward das Wunder vollbracht: 
der politische Meinungsstreit verstummte, alte Gegner fingen an, sich zu verstehen und zu achten, der Geist treuer 
Gemeinschaft erfüllte alle Volksgenossen. 
Voll Dank dürfen wir heute sagen: Gott war mit uns. Die feindlichen Heere, die sich vermaßen, in wenigen 
Monaten in Berlin einzuziehen, sind mit wuchtigen Schlägen im Westen und im Osten weit zurückgetrieben. Zahl- 
lose Schlachtfelder in den verschiedensten Teilen Europas, Seegefechte an nahen und fernsten Gestaden bezengen, 
was deutscher Ingrimm in der Notwehr und deutsche Kriegskunst vermögen. Keine Vergewaltigung völker- 
rechtlicher Satzungen durch unsere Feinde war imstande, die wirtschaftlichen Grundlagen unserer Kriegsführung 
zu erschüttern. Staat und Gemeinden, Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Handel, Wissenschaft und Technik wett- 
eiferten, die Kriegsnöte zu lindern. Verständnisvoll für notwendige Eingriffe in den freien Warenverkehr, ganz 
hingegeben der Sorge für die Brüder im Felde, spannte die Bevölkerung daheim alle ihre Kräfte an zur Abwehr 
der gemeinsamen Gefahr. 
Mit tiefer Dantbarkeit gedenkt heute und immerdar das Vaterland seiner Kämpfer, derer, die todesmutig dem 
Feind die Stirne bieten, derer, die wund oder krank zurückkehrten, derer vor allem, die in fremder Erde oder auf 
dem Grunde des Mecres vom Kampfe ausruhen. Mit den Müttern und Bätern, den Witwen und Waisen empfinde 
Ich den Schmerz um die Lieben, die fürs Vaterland starben. 
Innere Stärke und einheitlicher nationaler Wille im Geiste der Schöpfer des Reichs verbürgen den Sieg. 
Die Deiche, die sie in der Voraussicht errichteten, daß wir noch einmal zu verteidigen hätten, was wir 1870 
errangen, haben der größten Sturmfut der Weltgeschichte getrotzt. Nach den beispiellosen Beweisen von persönlicher 
Tüchtigkeit und nationaler Lebenskraft hege Ich die frohe Zuversicht, daß das deutsche Volk, die im Kriege erlebten 
Läuterungen treu bewahrend, auf erprobten alten und auf vertrauensvoll betretenen neuen Bahnen weiter in 
Bildung und Gesittung rüstig vorwärts schreiten wird. 
Großes Erleben macht ehrfürchtig und im Herzen fest. In heroischen Taten und Leiden harren wir ohne 
Wanken aus, bis der Friede kommt — ein Friede, der uns die notwendigen militärischen, politischen und wirt- 
schaftlichen Sicherheiten für die Zukunft bietet und die Bedingungen erfüllt zur ungehemmten Entfaltung unserer 
schaffenden Kräfte in der Heimat und auf dem freien Meere. 
So werden wir den großen Kampf für Deutschlands Recht und Freiheit, wie lange er auch dauern mag, in 
Ehren bestehen und vor Gott, der unsere Waffen weiter segnen wolle, des Sieges würdig sein. 
Großes Hauptquartier, den 31. Juli 1915. 
Wilhelm I. R. —
	        
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