An das deutsche Volk.
Ein Jahr ist verflossen, seitdem Ich das dentsche Volk zu den Waffen rufen mußte Eine unerhört blutige
Zeit kam über Europa und die Welt. Vor Gott und der Geschichte ist Mein Gewissen rein: Ich habe den
Krieg nicht gewollt. Nach Vorbereitungen eines ganzen Jahrzehnts glaubte der Verband der Mächte, denen
Deutschland zu groß geworden war, den Angenblick gekommen, um das in gerechter Sache treu zu seinem öster-
reichisch-ungarischen Bundesgenossen stehende Reich zu demütigen oder in einem übermächtigen Ringe zu erdrücken.
Nicht Eroberungslust hat uns, wie Ich schon vor einem Jahre verkündete, in den Krieg getrieben. Als in
den Augusttagen alle Waffenfähigen zu den Fahnen eilten und die Truppen hinauszogen in den Verteidigungs-
kampf, fühlte jeder Deutsche auf dem Erdball, nach dem einmütigen Beispiele des Reichstags, daß für die höchsten
Güter der Nation, ihr Leben und ihre Freiheit, gefochten werden mußte. Was uns bevorstand, wenn es fremder
Gewalt gelang, das Geschick unseres Volkes und Europas zu bestimmen, das haben die Drangsale Meiner lieben
Provinz Ostpreußen gezeigt. Durch das Bewußtsein des aufgedrungenen Kampfes ward das Wunder vollbracht:
der politische Meinungsstreit verstummte, alte Gegner fingen an, sich zu verstehen und zu achten, der Geist treuer
Gemeinschaft erfüllte alle Volksgenossen.
Voll Dank dürfen wir heute sagen: Gott war mit uns. Die feindlichen Heere, die sich vermaßen, in wenigen
Monaten in Berlin einzuziehen, sind mit wuchtigen Schlägen im Westen und im Osten weit zurückgetrieben. Zahl-
lose Schlachtfelder in den verschiedensten Teilen Europas, Seegefechte an nahen und fernsten Gestaden bezengen,
was deutscher Ingrimm in der Notwehr und deutsche Kriegskunst vermögen. Keine Vergewaltigung völker-
rechtlicher Satzungen durch unsere Feinde war imstande, die wirtschaftlichen Grundlagen unserer Kriegsführung
zu erschüttern. Staat und Gemeinden, Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Handel, Wissenschaft und Technik wett-
eiferten, die Kriegsnöte zu lindern. Verständnisvoll für notwendige Eingriffe in den freien Warenverkehr, ganz
hingegeben der Sorge für die Brüder im Felde, spannte die Bevölkerung daheim alle ihre Kräfte an zur Abwehr
der gemeinsamen Gefahr.
Mit tiefer Dantbarkeit gedenkt heute und immerdar das Vaterland seiner Kämpfer, derer, die todesmutig dem
Feind die Stirne bieten, derer, die wund oder krank zurückkehrten, derer vor allem, die in fremder Erde oder auf
dem Grunde des Mecres vom Kampfe ausruhen. Mit den Müttern und Bätern, den Witwen und Waisen empfinde
Ich den Schmerz um die Lieben, die fürs Vaterland starben.
Innere Stärke und einheitlicher nationaler Wille im Geiste der Schöpfer des Reichs verbürgen den Sieg.
Die Deiche, die sie in der Voraussicht errichteten, daß wir noch einmal zu verteidigen hätten, was wir 1870
errangen, haben der größten Sturmfut der Weltgeschichte getrotzt. Nach den beispiellosen Beweisen von persönlicher
Tüchtigkeit und nationaler Lebenskraft hege Ich die frohe Zuversicht, daß das deutsche Volk, die im Kriege erlebten
Läuterungen treu bewahrend, auf erprobten alten und auf vertrauensvoll betretenen neuen Bahnen weiter in
Bildung und Gesittung rüstig vorwärts schreiten wird.
Großes Erleben macht ehrfürchtig und im Herzen fest. In heroischen Taten und Leiden harren wir ohne
Wanken aus, bis der Friede kommt — ein Friede, der uns die notwendigen militärischen, politischen und wirt-
schaftlichen Sicherheiten für die Zukunft bietet und die Bedingungen erfüllt zur ungehemmten Entfaltung unserer
schaffenden Kräfte in der Heimat und auf dem freien Meere.
So werden wir den großen Kampf für Deutschlands Recht und Freiheit, wie lange er auch dauern mag, in
Ehren bestehen und vor Gott, der unsere Waffen weiter segnen wolle, des Sieges würdig sein.
Großes Hauptquartier, den 31. Juli 1915.
Wilhelm I. R. —