Aus den Jahren 1850 bis 1866 99
Wiener politische Notizen im Januar 186 1.10
Die gegenwärtige Lage Oesterreichs ist eine erwartende und abwartende.
Daß das Diplom vom 20. Oktober 2) niemand zufriedengestellt hat,
ist bekannt. Es teilt Berechtigungen aus, ohne Verpflichtungen aufzu-
legen, schwächt die Regierungsgewalt, ohne die öffentliche Meinung zu
gewinnen. Daher Unzufriedenheit und Mißtrauen.
Der Zwiespalt im Ministerium zwischen Rechberg und Schmerling ist
das Symbol der ganzen Lage.
Während die Partei, zu der Rechberg gehört, sich nur de très mau-
vaise gräce den liberalen Strömungen anbequemt, hofft die Partei Schmer-
lings aus den einmal erlangten freisinnigen Maßregeln eine konstitutionelle
Entwicklung des ganzen Staatslebens zu erzwingen. Als ich Schmerling
besuchte, fing er gleich damit an, es sei allerdings leichter gewesen, eine
der vorhandenen Konstitutionen, zum Beispiel die belgische oder die bayrische,
zum Muster zu nehmen und danach eine österreichische Gesamtverfassung
zu machen. Allein man habe gründlicher zu Werke gehen müssen in Be-
rücksichtigung der eigentümlichen Verhältnisse des österreichischen Staats.
Nicht die ungarischen Zustände allein seien das Hindernis. Diese betreffend
äußerte er sich dahin, daß eine Revolution kommen, daß man aber damit
fertig werden werde. Die altungarische Partei habe nie Sympathie in
Ungarn gehabt, die konstitutionelle Partei von Deak sei und werde noch
mehr von der Anarchie überflutet. Ueber die Haltung der Deutschen in
Ungarn sprach er sich mit der größten Verachtung aus. Auf meine Frage,
wie sich denn das Ministerium den vielen Landesvertretungen gegenüber
stellen könne und ob dies nicht zu großen Schwierigkeiten führen werde,
antwortete er rasch, seit seinem Eintritt in das Ministerium habe sich das
wesentlich geändert. Man werde auch nach und nach dem repräsentativen
Gesamtstaat näherkommen. Die Angelegenheiten der protestantischen Kon-
fessionsverwandten würden in den nächsten Tagen geordnet. Das Kon-
kordat selbst rühre er nicht an, da dies am besten dem Reichsrat überlassen
bleiben könne. Durch eine bessere Stellung der Protestanten hoffe er das
Verhältnis zu England zu verbessern. Mir scheint, daß Schmerling darauf
rechnet, sich seiner ihm unbequemen Kollegen durch die Landesvertretung zu
entledigen. Was in dieser Manipulation Gefährliches und Unpolitisches liegt,
weil es abermals ein Sichabdringenlassen in sich schließt, mag er wohl nicht
1) Der jüngste Bruder des Fürsten Prinz Konstantin hatte sich im Jahre
1859 mit der Prinzessin Marie zu Sayn-Wittgenstein vermählt. Seit dieser Zeit
pflegte der Fürst mit seiner Gemahlin regelmäßig im Winter einen Aufenthalt in
Wien zu machen.
2) Das am 20. Oktober erlassene Staatsgrundgesetz, welches besondere Statuten
für die einzelnen Kronländer verhieß.