Aus den Jahren 1850 bis 1866 103
die Kirchengewalt abzuleiten und zu rechtfertigen. Religion und Politik,
Staat und Kirche wurden unablässig vermischt. Der Staat stand im
Dienste der Kirche; wer nicht Glied der katholischen Kirche war, der
galt überhaupt nicht als berechtigtes Glied im Staate, und wer mit der
kirchlichen Lehre und Einrichtung in Widerspruch trat, ward schon darum
als Feind des Staates angesehen. So vor allem die Juden, welche
weniger als Fremdlinge in Europa, denn als Feinde des Christentums
und christlichen Staats als absolut rechtlose Wesen betrachtet wurden und
froh sein mußten, im römischen Reiche deutscher Nation als „kaiserliche
Kammerknechte“ gegen nicht eben geringe Abgaben Duldung und Schutz
vom Kaiser und später von den Landesherren, denen das „Judenschutzrecht"
durch Privilegien verliehen wurde, zu erlangen. An dieser Auffassung
des christlichen Staats änderte auch die Reformation wenig. Sie löste
zwar die alte Verbindung der katholischen Kirche mit dem Staate, aber
der Staat war darum doch nicht minder „christlich" geblieben, wenn man
darunter die konfessionelle Exklusivität gegenüber den nichtanerkannten
Religionsparteien auch auf dem Gebiete des Rechts versteht.
Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann eine neue
Anschauung über das Verhältnis von Staat und Kirche und damit über
das Wesen des ersteren Platz zu greifen. Man fing an, Staat und Kirche
als zwei verschiedene, selbständige und von einander unabhängige Organis-
men zu erkennen, von denen jeder seine eigentümliche Mission zu er-
füllen habe. So brachen sich gleichzeitig die Ideen der Bekenntnisfreiheit
und des Rechtsstaats Bahn. Mit dem Siege der ersteren war die bis
dahin übliche Auffassung des „christlichen Staates“ nicht mehr zu halten.
Der Staat konnte nicht mehr konfessionell und unduldsam bleiben, er mußte
in einem andern Sinne christlich, d. h. gerecht und duldsam gegen alle
Untertanenklassen, er mußte zum Rechtsstaate oder besser zum Gerechtig-
keitsstaate werden.
Es wurde zwar die Ansicht und Befürchtung ausgesprochen, daß der
moderne Staat aufgehört habe oder aufhören werde, ein christlicher zu sein,
und man hat auf den schon öfter gehörten Satz hingewiesen: „Der Staat sei
ein atheistisches Wesen und müsse es sein.“ Allein ich teile diese Ansicht und
Befürchtung durchaus nicht, und eine bessere Theorie hat jenen Irrtum auch
längst erkannt und korrigiert. Man hat eingesehen, daß eine überstürzende
Richtung in Trugschlüssen sich verirrt und übersehen habe, daß sie das
Unmögliche voraussetzte. Der moderne Staat kann nur ein christlicher sein,
wenn er auch aufgehört hat, der konfessionell-feudale Staat des Mittel-
alters zu sein. Er kann nur ein christlicher sein, weil alle Beziehungen
des bürgerlichen und Familienlebens vom Geiste des Christentums durch-
drungen, weil unsere sozialen, staatlichen und rechtlichen Institutionen auf