140 Aus den Jahren 1850 bis 1866
politischen Verhältnisse von Deutschland au courant erhalten zu werden.
Bei der Aufmerksamkeit, mit welcher man in England deutsche Einflüsse
verfolgte, sollten diese Berichte an die Königin durch die Vermittlung der
Fürstin Feodora übersandt werden. Namentlich sollte der Fürst die
schleswig-holsteinsche Sache und deren Bedeutung für Deutschland be-
sprechen, da die Engländer diese nicht verständen. Auf den Wunsch der
Königin Viktoria erstattete der Fürst die nachfolgenden beiden Berichte
vom 4. Mai 1864 und 15. April 1865, ein politisches Glaubensbekenntnis
unmittelbar vor dem Ausbruch der großen Bewegung, die den Fürsten
selbst zum politischen Handeln an leitender Stelle berief.
München, 4. Mai 1864.
Eure Königliche Majestät haben mir den ehrenvollen Auftrag erteilt,
von Zeit zu Zeit Bericht über die sozialen und politischen Zustände von
Deutschland abzustatten. Ich erlaube mir, diesem Auftrage in nachstehendem
Folge zu leisten.
Was die sozialen Zustände betrifft, so sind diese zu allen Zeiten in
Deutschland mit den religiösen so eng verbunden gewesen, daß der religiösen
Bewegung in Deutschland zunächst Erwähnung zu tun ist.
Vor allem ist es eine bemerkenswerte Erscheinung, daß sich die
Gegensätze der gläubigen und nichtgläubigen Richtung immer schroffer
gestalten. Während die im Westen von Deutschland herrschende Richtung,
deren Repräsentanten in einigen Ländern sogar das Kirchenregiment in
der Hand haben, den Grundsatz aufstellen, daß die Reformation auf
halbem Weg stehen geblieben sei, von der katholischen Kirche zu viele Elemente
in sich aufgenommen und dadurch sich dem Fortschritt verschlossen habe,
daß aber jetzt die Zeit gekommen sei, das Christentum im Geiste der Zeit
umzubilden und das Glaubensbekenntnis dem wirklich bestehenden Glauben
und damit den Bedürfnissen einer nicht mehr orthodox gläubigen Gemeinde
entsprechend zu reformieren, schließt sich im Gegensatz zu dieser protestan-
tischen Bewegungspartei die orthodox lutherische Glaubensgenossenschaft
fester aneinander an. Diese bestreitet die Notwendigkeit des Fortschritts
und der zeitgemäßen Entwicklung des Protestantismus, sie hält sich an
die Bibel und an Luther, ja ein Teil derselben würde gern in den Schoß
der katholischen Kirche zurückkehren, wenn diese ihr nur einige Konzes-
sionen im Dogma, insbesondere in der Lehre von der Rechtfertigung durch
den Glauben, machen wollte oder könnte. Da dies nicht möglich ist, so
bildet sie wenigstens innerhalb ihrer Kirche eine strenge Gläubigkeit aus,
modifiziert ihre Liturgien in einer der katholischen ähnlichen Art und
nimmt so viel als immer möglich von den Werken der katholischen
Kirche in ihre Sitten und Gebräuche auf. Die Institution der Diakonissen,