40 Die Revolution und die Reichsgesandtschaft (1848 bis 1850)
so hat auch die Geschichte aller Völker eine Epoche, wo sie zum Selbst-
bewußtsein und zum Wunsche der freien Selbstbestimmung gelangen. In
einer solchen Zeit werden die wohlgemeintesten Handlungen der besten
Regierungen verkannt, die eifrigste Pflichterfüllung einer bevormundenden
Beamtenwelt als ungenügend angesehen, wenn diese Regierungen, diese
Beamten die Mündigkeit des Volks nicht anerkennen und aus Gewohnheit
oder falsch verstandenem Interesse auf der alten Bahn fortschreiten.
Wir sind in Deutschland auf einem solchen Punkte angelangt. Wohin
wir sehen, regt sich eine Teilnahme des Volks an den öffentlichen An-
gelegenheiten, wie noch zu keiner Zeit. Aber die Regierungen verkennen
diese Bewegung. Sie sehen oder wollen in dieser Bewegung nur das
Treiben einer propagandistischen radikalen Clique finden und erfüllen sich
mit Mißtrauen. Ein Grund der Unzufriedenheit ist in Deutschland all-
gemein verbreitet, jeder denkende deutsche Mann empfindet ihn tief und
schmerzlich. Es ist die Nullität Deutschlands gegenüber den andern Staaten.
Man sage uns nicht, daß Oesterreich und Preußen als Großmächte die
Macht Deutschlands nach außen vertreten. Einesteils vertritt Oesterreich
nach außen gar wenig, weil ihm die innere Kraft fehlt, andernteils hat
Preußen, wenn man recht offen sein will, doch nur eine geduldete Stellung
unter den Großmächten und wird auch diese Stellung, wenn die politische
Bewegung im Innern so fortgeht, wie sie begonnen hat, nicht lange mehr
halten. Endlich aber sind das doch nur Preußen und Oesterreich, und
der übrige Teil von Deutschland spielt immer die Nebenrolle und den
kannegießernden Zuschauer. Niemand wird leugnen, daß es für einen
denkenden, tatkräftigen Mann ein trauriges Los ist, in der Fremde nicht
sagen zu können: ich bin ein Deutscher, nicht mit Stolz die deutsche Flagge
auf seinem Schiffe zu sehen, in Bedrängnissen keinen deutschen Konsul zu
finden, sondern sich sagen zu müssen: ich bin ein Kurhesse, ein Darmstädter,
ein Bückeburger, mein Vaterland war einmal ein großes, mächtiges Land,
jetzt ist es zersplittert in achtunddreißig Lappen. Und wenn wir die Karte
betrachten und sehen, wie Ostsee, Nordsee und Mittelmeer an unfre Küsten
schlagen und kein deutsches Schiff, keine deutsche Flagge auf der See den
stolzen Engländern und Franzosen den üblichen Gruß abzwingt, muß uns
da nicht die Farbe der Scham von dem schwarzrotgoldenen Bande allein
übrigbleiben und in die Wange steigen? Und muß das elende Gerede
über Einheit Deutschlands und deutsche Nation nicht so lange lächerlich
und betrübt bleiben, bis das Wort kein leerer Schall, keine Phantasmagorie
unsers gutmütigen Optimismus mehr ist, sondern wir wirklich ein großes,
einiges Deutschland haben? Der durch den Zollverein mächtig heran-
wachsenden Industrie genügt der Handel in seiner bestehenden Ausdehnung
nicht mehr, der reiche Handelsstand sucht auswärtige Märkte und über-