Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Erster Band. (1)

70 Aus den Jahren 1850 bis 1866 
Am Morgen ist es am schönsten auf der Terrasse. Der Himmel und die 
Luft sind klar wie im September. 
Bauern habe ich noch nicht viel gesehen, es wohnen fast gar keine hier, 
die Häuser sind von Handwerkern bewohnt, die alle wohlhabend sind. 
Manchmal kommen Bettler mit Bittschriften in den Garten. Die sind 
gewöhnlich von entfernteren Orten und machen Komplimente bis auf den 
Boden. 
28. Juni. 
Ich sitze in einem Pavillon nahe bei der Terrasse; es ist ein runder 
Saal mit Glastüren ringsherum. Auf der Seite, wo ich sitze, sehe ich 
nur Kiefern und höre den Wind im nahen Walde rauschen und die Raben 
krächzen, deren es hier eine Menge gibt. Außer Schillingsfürst habe ich 
noch keinen Ort gesehen, wo es so viele schöne Spaziergänge gibt wie hier; 
jeden Tag nach Tisch führt mich Marie einen neuen Weg. Heute fuhren 
wir ein Stück bis hinüber auf einen waldigen Berg, wo wir ausstiegen 
und herrliche Wege gingen. Es standen immense Tannen unter den Kiefern, 
und grüne, sonnige Wege führten zwischen den Bäumen hindurch. Alle 
Augenblicke kam man an eine weiße Kapelle, von dunkeln Tannen um- 
geben. Dort in der Nähe ist der Kalvarienberg, auf dem die katholische 
Kirche steht. Wir stiegen hinauf, ehe wir zurückfuhren. Man sieht von 
dort das weiße Schloß mit seinem Turm aus dem dichten schwarzen Walde 
hervorragen wie ein Feenschloß; ringsherum nichts als Wald. Das Wilde 
und Liebliche ist hier vereinigt. Wenn die düsteren Wälder traurig stimmen, 
so wird man durch den blauen, spiegelklaren Fluß wieder erheitert und 
durch die reine, klare Luft gestärkt. Die Luft war heute wie am Meer; 
im Hause ist sie dumpf, die Gänge sind so finster und schmal, die Zimmer 
hoch, aber meistens auch schmal. Das ganze Haus ist schmal, ohne Seiten- 
flügel, am einen Ende der Turm, am andern ein Anbau von Glas, in 
dem der Wintergarten ist. Schöne Palmbäume und alle möglichen Pflanzen 
sind darin. Aus Chlodwigs Zimmer und aus Mariens Schlafzimmer führen 
Türen hinein. In ersterem trinken wir immer Tee des Abends. Um 2 Uhr 
lese ich Marie vor, jetzt „Economie politiqgue“ von Say und um 4 Uhr 
essen wir in dem hohen hellen Rittersaal. 
22. Juli. 
Abends, wenn ich das Licht ausgelöscht habe, nachdem ich noch mit 
Chlodwig aufgewesen bin, fühle ich mich oft ganz beseligt, auch seine 
Gefährtin sein zu dürfen, stolz, daß er seine Gedanken bei mir niederlegt. 
Da moöchte ich alle Liebe auf ihn ausströmen lassen. 
24. Juli. 
Abends lesen wir jetzt die chemischen Briefe von Liebig, d. h. der Doktor 
liest sie vor und erklärt vieles von den Eigenschaften des Sauerstoffs,
	        
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