Aus den Jahren 1850 bis 1866 89
sofortigen Atheismus, zur Auflösung der sozialen Ordnung. Ueber dieses
Thema wurde noch vielfach hin und her geredet, bis endlich der Hof—
marschall kam und bemerkte, daß die Königin uns erwarte. Mit einem
Zitat aus den Briefen des Apostels Paulus erhob sich der Prinz, in
dessen ganzer Anschauungsweise mich ein gewisser doktrinärer Geist anwehte,
der mir zeigte, wie unglücklich es für den Prinzen war, daß er unmittel-
bar von einer deutschen Universität, auf der er nur oberflächliche Studien
gemacht hat, in seine jetzige Stellung kam, ohne durch die Berührung mit
der praktischen Welt die Doktrin abgeschliffen zu haben. !)
Nach Tisch hielt sich der ganze Hof in dem großen Saale, einer läng-
lichen, prachtvoll dekorierten, mit Säulen verzierten Galerie, auf. Die
Königin sprach nun mit den Anwesenden. Bei mir erkundigte sie sich mit
vieler Teilnahme und in einem sehr ungekünstelten, ganz natürlichen Tone
(ungleich dem gleichgültigen Geschnatter kontinentaler Souveräne) nach
allen Verwandten und zeigte dabei das gute Herz, das man ihr häufig
abgesprochen hat. Nach Beendigung des Cercle ging die Königin in
den benachbarten Salon, wo sie auf einem Kanapee Platz nahm, die
Damen und einige Herren umher. Hier hörte man der Musik zu, die in
einem Nebengemache spielte. Gegen oder nach 11 Uhr erhob sie sich, und
dies war das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.
Sonnabend den 25. Juni besuchte ich den österreichischen Gesandten
Grafen Apponyi, der mir die Nachricht der unglücklichen Schlacht am
Mincio#) mitteilte, die er eben durch telegrapbische Depesche aus Paris
erhalten hatte. Er war äußerst niedergeschlagen und sprach mit vieler
Bitterkeit von der preußischen Politik, der Oesterreich diese Niederlage zu
verdanken habe. Werde Oesterreich nun gezwungen, einen schimpflichen
Frieden zu schließen, so werde sich Napoleon hierauf gegen Preußen und
Deutschland wenden, und dann sei Oesterreich nicht mehr imstande zu helfen.
An diesem Tage war Lever, d. h. große Vorstellung bei Hofe. Ich
ging in die Nähe des St. James-Palastes, um die vorbeifahrenden
Equipagen zu sehen, unter denen die des Lordmayors von London und seiner
Suite sich durch besonderen Glanz auszeichneten. Den übrigen Teil des
Tages benutzte ich, um Einkäufe zu besorgen. Da die Königin kein großes
Diner hielt, wurde ich nicht eingeladen und konnte bei Apponyi essen, wo
ich dann auch den Abend zubrachte und um 12 Uhr nach Hause ging.
Da es Sonnabend Abend war, so waren die Viktualienläden, besonders
in den kleineren Straßen, offen, damit die Einkäufe für den Sonntag gemacht
werden konnten. Auch fand ich die Straßen durch viele Betrunkene belebt.
1) Vergl. die übereinstimmende Beurteilung des Prinzen Albert in dem Werke
des Herzogs Ernst: „Aus meinem Leben“, Bd. I S. 129 ff.
2) Schlacht bei Solferino am 24. Juni.