Prostitution. 201
doch Sünde noch Sünde, in Frankreich nicht“". Allein abgesehen von dem weiterhin
zu besprechenden schwer in die Wagschale fallenden sanitären Gesichtspunkte hat
doch auch über die sittlichen Folgen des laisser aller für das Gemeinwesen die
Erfahrung längst ihr Urtheil gesprochen und eine geregelte Eindämmung des Uebels
als absolut nothwendig erkennen lassen. Diese Eindämmung hat im öhffentlichen
Sittlichkeitsinteresse derart zu geschehen, daß keinerlei öffentliche Schau-
plätze unsittlicher Ansprachen und Verlockungen geduldet werden,
und daß die Wohnstätten der Prostituirten den Augen des Publikums mög-
lichst entrückt, den Vorübergehenden in keiner Weise auffallend und der
unreifen Generation unter keiner Bedingung zugänglich seien.
Alle über diese Ziele hinausgehende sog. radikale Unterdrückungsmaßregeln haben
das Gegentheil des Gewollten, die Verlegung des Uebels aus einem gekannten,
polizeilich übersehbaren und beeinflußbaren in ein heimliches, aller Beaufsichtigung
entzogenes Gebiet, sowie ein Durchsickern aus diesem durch tausend unberechenbare
Poren in die Oeffentlichkeit zur Folge gehabt.
Das zweite Interesse des Staates an der Plfrage ist dasjenige der öffent-
lichen Gesundheit, da die P. als Hauptquelle der Verbreitung gewisser an-
steckender Krankheiten anerkannt ist. Wäre es möglich, die P. wirklich und gänzlich
aus der Welt zu schaffen, so würde es voraussichtlich gelingen, demnächst auch die
syphilitischen Erkrankungen gänzlich zu beseitigen. Aber gerade hier gilt in noch
weit höherem Grade die Wahrheit, daß jeder Versuch völliger Unterdrückung nur
eine Verzichtleistung auf diejenigen Aufsichtsmaßregeln bedeutet, welche gegenüber
einer der Beobachtung zugänglichen Gestalt des Uebels möglich sind. Alle Be-
stimmungen zur Unterdrückung der P. haben in sanitärer Hinsicht erst
recht ihren Zweck verfehlt, und im Gegentheile nur eine Zunahme der
Genitalerkrankungen zur Folge gehabt. Es bleibt daher Nichts übrig, als die
Träger und Vermittler des syphilitischen Giftes durch scharfe Ueberwachung, regel-
mäßige Untersuchungen, Isolirung und Heilung der Erkrankten möglichst unschädlich
für das Gemeinwesen zu machen. Und solche Aufsichtsmaßregeln sanitärer
Art sind, wie die Erfahrung in allen Ländern lehrt, so dringend erforderlich, daß
davor jedwede Bedenken ethischer oder religiöser Art gegen die direkte Einmischung
der staatlichen Organe in die Vorbeugung geschlechtlicher Erkrankungen schwinden
müssen.
Lehrreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich der Syphilisverbreitung in Ländern
mit und ohne vorbeugende sanitäre Ueberwachung. In Paris z. B., wo die sämmt-
lichen Prostituirten, soweit sie der Polizei bekannt sind, zwangsweise einer regel-
mäßigen ärztlichen Untersuchung unterzogen werden, kamen nach einem Bericht von
Lefort auf sämmtliche Hospitalpatienten 3,3 Prozent an Syphilis oder Gonorrhöe
leidende, in London dagegen, wo gar keine solchen Untersuchungen stattfinden, belief
sich das Verhältniß auf 8,8 Prozent. Die Zahl der an diesen Krankheiten
unentgeltlich in und außer den Hospitälern in London behandelten Personen beträgt
nach amtlicher Schätzung jährlich über 52 000, zu welchen also die vielen auf eigene
Kosten von Aerzten, Apothekern und Pfuschern behandelten, sowie die gar nicht be-
handelten Kranken noch hinzukommen.
Von der unmittelbar günstigen Wirkung der ärztlichen Kontrole erhalten wir
auch ein charakteristisches Bild durch die Statistik der Garnisonen in denjenigen
Städten Englands, in welchen jene Kontrole vermöge des „Gesetzes zur Verhütung
ansteckender Krankheiten“ im Jahre 1866 eingeführt worden ist. Vor dieser Ein-
richtung schwankte die Verhältnißzahl der jährlich an diesen Krankheiten in die
Lazarethe ausgenommenen Soldaten auf je 1000 Mann des Präsenzstandes zwischen
110 und 120. Im Jahre 1866 sank sie auf 90,5; in 1867 auf 86,3; in 1868
auf 72; in 1869 auf 60; in 1870 auf 54,5. (Fourth Report on the operation
of the Contagious Diseases Acts. London 1872.)