Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

202 Prostitution. 
Die auch in Deutschland versuchte Agitation gegen die Maßregeln zur sanitären 
Beaufsichtigung der P. stützt sich besonders auf die Behauptung, solche Maßregeln 
hätten nur den Zweck, Wollüstigen ihre Ausschweifungen ungefährlicher und sicherer 
zu machen. Mohl, welcher alle und jede Regelung des P.wesens verwirft, sagt: 
„was insbesondere die medizinisch-polizeiliche Rücksicht betrifft, so ist sie ganz un- 
motivirt, da sich hier jeder selbst vor Schaden wahren kann". Schür- 
mayer geht sogar noch weiter und findet es „vielmehr mit den Forderungen der 
Sittlichkeit im Einklange und von praktischem Erfolge, selbst da, wo Bordelle ge- 
duldet werden, diese wegen syphilitischer Ansteckung nicht zu über- 
wachen; sie würden dadurch bald in einen Zustand und Ruf verfallen, der auch 
den geilsten Wollüstling von der Benutzung abschrecken werde“. 
Schürmayer's humaner Vorschlag findet sich bekanntlich längst in London 
und den übrigen großen Britischen Handelsstädten ganz ideal ausgeführt; man hat dort 
nie anders verfahren, — aber mit welchem „Abschreckungs“-Erfolge, ist ebenso be- 
kannt; nirgendwo in Europa ist die Benutzung der Bordelle eine allgemeinere als 
in der Britischen Metropole. Bei diesen und ähnlichen Argumenten, deren sich, wie 
oben erwähnt, vor 40 Jahren auch ein Preußischer Minister bediente, vergißt man 
überdies die wichtige, schon für sich allein entscheidende Thatsache, daß die fragliche 
Krankheit sowol durch weitere Ansteckung, wie auch durch erbliche Ueber- 
tragung von den schuldigen auf die unschuldigsten Glieder der Familie sich ver- 
breitet und die kommenden Geschlechter im voraus vergiftet. Wie 
können Frau und Kinder, wie die Amme des unsichtbar infizirten Säuglings, um 
mit Mohl zu reden, sich selbst vor Schaden wahren? Gegen diese in ihrer Weiter- 
verbreitung von jedem Einzelfalle aus unberechenbare Infektion überall vorbeugend 
einzuschreiten, ist doch gewiß eine Pflicht der staatlichen Gesundheitspflege, bei welcher 
es gar nicht entlastend in Betracht fällt, inwieweit Einzelne sich den Schaden 
durch eigene Schuld zuziehen. 
Die Hauptsache bei Bekämpfung der Syphilis ist frühe Entdeckung und 
frühe Behandlung der Infektion; — beide können nur gesichert werden durch 
ein System regelmäßiger ärztlicher Untersuchungen sämmtlicher Lustdirnen, ohne 
Unterschied, ob sie der Erkrankung verdächtig sind oder nicht. Viele derselben sind 
sich des kranken und ansteckungsfähigen Zustandes gar nicht oder erst nach längerer 
Dauer desselben bewußt; andere sind von einer zu brutalen Gleichgültigkeit gegen 
alle Folgen der Krankheit beseelt, um ihre Freiheit aufzugeben, so lange das Leiden 
nicht einen so hohen Grad erreicht hat, daß sie außer Stande sind, länger ihrem 
Erwerbe nachzugehen. Bezeichnend ist eine gutachtliche Aeußerung über diese Frage 
von einer Stelle, der man die vollste Erfahrung zuerkennen muß, ohne ihr etwaige 
einseitig ärztliche Berufsgesichtspunkte vorwerfen zu können, — von den Verwaltern 
(„governors“") des Londoner Hospitals für syphilitische Frauen. Dieselben erklären, 
sie seien sehr betroffen gewesen über den großen Kontrast zwischen denjenigen Krank- 
heitsfällen, welche aus Distrikten ohne ärztliche Ueberwachung der Lustdirnen zur 
Aufnahme gelangten, mit denjenigen aus Distrikten mit ärztlicher Ueberwachung. 
Von den ersteren litt der größere Theil in Folge langer Vernachlässigung an den 
bösartigsten und hartnäckigsten Formen der Lustseuche, während die letzteren größten- 
theils einer leichten und vollkommenen Heilung fähig waren (Report of the Lock 
Hospital and Asylum, 1872). Uebereinstimmend lautet das Urtheil aller in diesem 
Dienstzweige erfahrener Sanitätsbeamten dahin, daß die Bordelldirnen eine viel 
minder gefährliche OQuelle der Infektion bilden, als die einzelwohnenden Personen. 
Ueberhaupt ist den Bordellen der sanitäre Vorzug nicht abzustreiten, daß sie die 
genaueste und regelmäßigste Kontrole gestatten. 
In Frankreich duldet man bei den stehenden Lagern, z. B. bei demjenigen von 
Chalons, Bordelle, die man aber unter strenger Aufsicht hält; man erreichte dadurch zu 
Chalons in den Jahren 1863—1864 eine Verringerung der syphilitischen Ansteckungen
	        
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