Prostitution. 203
bis auf 1,3 Prozent der Truppenstärke, während um dieselbe Zeit bei der durch keinerlei
Kontrolmaßregeln geschützten Britischen Armee zu Aldershot die Verhältnißzahl 30
bis 31 Prozent betrug! Generalarzt Roth verlangt denn auch in seinem klassischen
Lehrbuch der Militärgesundheitspflege eine geregelte Ueberwachung der P. in jedem
stehenden Lager unter Konkurrenz der Civilbehörden, und erklärt wohlkontrolirte
Bordelle für das beste Mittel zur Durchführung der erforderlichen Untersuchungen.
Wenn man bedenkt, daß in der Preußischen Armee die Zahl der ansteckenden Genital-
erkrankungen jährlich 45 bis 54 auf je 1000 Mann der Truppenstärke, in der Französischen
90 bis 100, in der Englischen 250 bis 300 beträgt, und wenn man sich vergegen-
wärtigt, in welchem Maße hier der kräftigste Theil der jungen Männerwelt, die Bäter
der kommenden Generation, einer Infektion unterliegen, die von ihnen über das ganze
Land verbreitet und in das spätere Familienleben mithinein gebracht wird, dann
muß aller Zweifel darüber weichen, daß der Zweck einer wirksamen sanitären Kon-
trole allen anderen Gesichtspunkten weit voran zu stellen ist.
Der hier dargelegten Pflicht schützenden Eingreifens zur Abwendung gemeiner
Gesundheitsgefahr sowol, wie sittlichen öffentlichen Aergernisses kann der Staat nach
Kräften gerecht werden, ohne dabei in den Fehler einer zu aktiven Einmischung in
alle Verhältnisse der Prostituirten, in ihre Lebensweise, Kontraktbeziehungen, Kleidung,
Tarife u. s. w. zu verfallen. Diesen Fehler hat man in früheren Jahrhunderten be-
sonders auch in den Deutschen Handelsstädten vielfach begangen, und noch heute
findet man in einzelnen Städten solche obrigkeitliche Bordellordnungen, in welchen,
wie z. B. in derjenigen für Leipzig vom Jahre 1868, die Ansprüche der Dirnen
an den Wirth festgesetzt, „es für angemessen“ erklärt wird, „daß jedes Mädchen zur
Abendmahlzeit ein Seidel Lagerbier trinke“ u. dgl. m. Durch derartige Bestimmungen
setzt sich die Staatsbehörde wirklich in ein unziemliches Verhältniß von Mitwirkung
an dem Unzuchtsgeschäfte und verleiht den Ausüberinnen des letzteren ein Bewußtsein
formulirten Gewerberechts, welches als Vorwand zu weitergehenden Ansprüchen und
Anmaßungen mißbraucht wird. Sowol im Interesse des sittlichen Prinzips wie der
praktischen Ordnungserhaltung ist es vielmehr dringend erforderlich, daß alle Auf-
sichtsmaßregeln, wenn auch auf besonderer gesetzlicher Autorisirung der Polizeibehörde
beruhend, doch in der Ausführung stets nur den Charakter von einstweiliger Duldung
eines unvermeidlichen Uebels ohne Gewährung irgend welcher konkreten gesetzlichen
Berechtigung, Konzession oder dgl. strenge bewahren.
Im Uebrigen ist bei der rapiden Zunahme des internationalen Handels= und
Reiseverkehrs an einen radikalen Erfolg aller gegen die Syphilisverbreitung ge-
richteten Maßregeln nicht zu denken, ohne eine gleichmäßige internationale
Regelung der P. und der Syphilisbehandlung. Namentlich für Hafenplätze, mit
ihrer beständig wechselnden Bevölkerung von Matrosen aller seefahrenden Nationen,
würde nur eine Vereinbarung zwischen letzteren über gleichmäßige Aufsichtsmaßregeln —
etwa mit Einführung von Gesundheitspatenten für die Schiffsmannschaften — den
erforderlichen Schutz gewähren. An Vorschlägen in dieser Richtung fehlt es bereits
nicht, wol aber an irgend welcher Aussicht auf ihre Verwirklichung, so lange die
internationale Vorbeugung der gemeingefährlichen Krankheiten überhaupt keine leitende
Stelle findet.
Die Ergebnisse der hier vorgeführten Thatsachen aus der bisherigen Geschichte
und Statistik des P. wesens lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen:
1) Eine gänzliche Unterdrückung der P. ist unmöglich und alle
darauf abzielenden Maßregeln sind nicht blos nutzlos, sondern sogar schädlich, indem
sie das Uebel nur in verstecktere, der Beaufsichtigung schwerer zugängliche Formen
und Bahnen treiben.
2) Die auf möglichste Verminderung des Uebels gerichteten Schritte sind viel-
mehr gegen das vereinzelte Auftreten desselben, als gegen die kollektive Form, die
Bordelle, zu richten, da letztere wegen der weit leichteren Ueberwachung