Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

222 Prozeßleitung. 
jene angebliche Regel für einen anerkannten Rechtsgrundsatz oder vielleicht für ein Sprüch- 
wort zu halten sei, welches nur eine verkehrte Richtung der P. kennzeichnen sollte, mag 
dahin gestellt bleiben: aber mit Recht ist es von Wetzell betont worden, daß sie, 
von ihrer Beziehung zur Schriftlichkeit entkleidet, nichts Anderes besage, als die ältere, 
durch Gesetz und Ueberlieferung bestätigte Glossatorenregel, daß der Richter non 
secundum conscientiam suam, sed secundum allegata et probata judicare debet. 
Verfolgt man diese Regel, deren Schwerpunkt in der Negation: non secundum 
Conscientiam suam liegt, genauer, so haben die Prozessualisten seit ältester Zeit dem 
Richter niemals gestattet, de facto sibi ut privato noto zu ergänzen, und wenn 
A. Heusler in seinem sonst wohl berechtigten Gegensatz zur Verhandlungsmaxime 
dem Richter die Benutzung seiner Privatkenntniß zugestehen will, so übersieht er, daß 
Richterpflicht der Zeugenpflicht nachsteht und Entscheidung des Richters nach seinem 
privaten Wissen seiner willkürlichen Entscheidung die Thore öffnen würde. Immer 
dagegen hat der Richter de facto sibi ut judici noto et de jure supplere dürfen, 
und wie er in letzterer Beziehung das vorgebrachte Material unter andere Aktionen, 
Einreden und Rechtskategorien, als die von der Partei gewählten, zu bringen stets 
berechtigt erachtet worden ist, so hat man ihn in ersterer im Gem. Recht auch bis 
heute für befugt angesehen, notoria zu ergänzen und sich des Augenscheins und der 
Sachverständigen selbständig zu bedienen, wie auch das Fragerecht stets für zulässig 
gegolten hat, wenngleich die Schriftlichkeit des Verfahrens seine Uebung zurück- 
gedrängt. Das supplere de facto sibi ut judici noto greift aber offenbar noch 
weiter aus, und der Richter wird selbst solche Thatsachen und Beweismittel benutzen 
dürfen, auf deren Existenz ihn die Verhältnisse der Sache oder Akten, Urkunden, 
Zeugen und nicht die Parteien hingewiesen haben. Auch die Deutsche CPO. hat 
sich nicht mit der bloßen Passivität des Richters begnügt. Sie legt ihm das Frage- 
recht gegen die Parteien bei zur Erläuterung unklarer Anträge, zur Ergänzung un- 
genügender thatsächlicher und Beweismittelangaben und zur Herbeiführung aller für 
die Feststellung des Sachverhältnisses erheblichen Erklärungen und verpflichtet ihn 
im Amtsgerichtsverfahren sogar, auf Stellung sachdienlicher Anträge, vollständige 
Angabe aller erheblichen Thatsachen und vollständige Erklärung über sie hinzuwirken 
(s. d. Art. Amtsgerichtliches Verfahren). Um diesem Fragerdccht, welches 
im mündlichen Verfahren zu freier Entwickelung gelangen kann und von welchem 
die Motive unter Anderem mit Recht die Beseitigung der Abweisung angebrachter- 
maßen für viele Fälle erwarten, Nachdruck zu verleihen, darf auch das persönliche 
Erscheinen der Parteien zur Aufklärung der Sache verordnet werden, in Ehesachen 
eventuell unter Anwendung der Strafen und Zwangsmittel gegen Zeugen mit Aus- 
nahme der Haft, gegen den Konkursschuldner auch unter Zulassung dieser, in anderen 
Sachen unter naturgemäßer Berücksichtigung der Weigerung bei freier Beweis- 
würdigung, Auflage der Notheide und Kostenentscheidung. Im Beweispunkte sodann 
darf das Gericht alle bei ihm offenkundigen Thatsachen ergänzen, die Vorlage der von 
einer Partei angezogenen, in ihrem Besitze befindlichen Urkunden jeder Art, also auch 
der Rechnungsbücher, die Vorlage im Besitze der Partei befindlicher, auf Verhandlung 
und Entscheidung der Sache bezüglicher Akten, die Einnahme eines Augenscheins, 
der allerdings wol an den in Händen der Parteien befindlichen oder öffentlich zu- 
gänglichen Gegenständen von urkundlicher Bedeutung einschließlich des Prozeßobjekts, 
sowie nach dem Deutschen HGB. der Vorlage des Maklerjournals seine natürlichen 
Grenzen hat, und Begutachtung durch Sachverständige von Amtswegen anordnen, 
auch Zeugen zur Angabe des Zusammenhanges, in welchem die von ihnen zu be- 
kundenden Thatsachen stehen, und des Grundes ihres Wissens veranlassen. In Ent- 
mündigungs= und, soweit es für Erhaltung der Ehe in Betracht kommt, auch in 
Ehesachen, sowie im Konkursverfahren steht dem Gerichte das Recht freier Ermittelung 
zu, bzw. vorbehältlich des Gehörs der Parteien oder des Beklagten allein.
	        
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