Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

226 Prüfungsrecht. 
Verordnungen mit Gesetzeskraft, auf die Form und den Inhalt der Gesetze, namentlich 
ob die letzteren in beiden Beziehungen mit der Verfassung übereinstimmen oder nicht, 
gerichtet sein. Es giebt hier eben gar keine Fragen, die man transcendent nennen 
könnte, sondern sie sind alle durchaus immanent, so lange man sich in den Grenzen 
einer rein juristischen Betrachtungsweise hält. 
Diese rein juristische Betrachtungsweise ist aber überall durch Erwägungen 
politischer Natur beeinträchtigt, so daß in der Wirklichkeit nirgends die vollen Kon- 
sequenzen jener Argumentation anerkannt sind. 
Zunächst sind die Verwaltungsbehörden bei der ihnen in allen Ländern im 
weiten Umfange zustehenden Rechtsanwendung (vgl. Th. I. S. 891 ff.) in Bezug 
auf Polizeistrafrecht, Verwaltungsrechtspflege im engeren Sinne auch hinsichtlich der 
Prüfung der Rechtsgültigkeit der darauf bezüglichen Normen an die Weisungen ge- 
bunden, die ihnen von den oberen Behörden ertheilt werden. 
Die Justizbehörden sind nun allerdings im modernen Rechtsstaat keiner anderen 
Autorität als der des Gesetzes unterworfen. Indessen ist doch die Theorie und 
Praxis des Gemeinen Deutschen Staatsrechts darüber einig, daß das richterliche P. 
kein schrankenloses sei. Dasselbe soll ganz abgesehen von der Form, nach der 
Meinung der meisten Rechtslehrer, der auch die Wirklichkeit entspricht, sich auch auf 
das materielle Gebiet erstrecken, wird aber in dieser Hinsicht auf die Prüfung der 
formellen und materiellen Gesetzmäßigkeit der Verordnungen eingeschränkt, während 
dagegen eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze höchstens in formeller, 
nicht auch in materieller Hinsicht gefordert und gewährt wird, und doch ist unver- 
kennbar, daß die Bestimmungen einer Verfassungsurkunde eine höhere Art von be- 
fehlenden Normen sind und ungeachtet einer durch ein gewöhnliches Gesetz gegebenen 
anderweiten Bestimmung beobachtet werden müssen; oder soll der Richter auf eine 
in einem gewöhnlichen Gesetze vorgeschriebene Strafe erkennen dürfen, obgleich die 
Verfassung diese Strafe verboten hat? Die Richter sind so wenig Wächter der Ver- 
fassung als Wächter der Gesetze, aber sie sollen die ihnen vorliegenden Fälle nur 
unter gültige Gesetze subsumiren, und ein verfassungswidriges Gesetz ist als ein. 
gültiges nicht anzuerkennen. 
Es ist deshalb an sich gar nicht besonders prinzipwidrig, wenn in Preußen 
positivrechtlich das richterliche P. noch weiter beschränkt und blos hinsichtlich des 
Vorhandenseins der formellen Requisite gestattet ist. Der Art. 106 der Verf. Urk. 
lautet nämlich: „Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom 
Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt gemacht sind. Die Prüfung der Rechtsgültigkeit 
gehörig verkündeter königl. Verordnungen steht nicht den Behörden, sondern nur 
den Kammern zu.“ Daraus ergiebt sich: die Preußischen Gerichte haben zwar das 
Recht, in allen Civil= und Strafsachen zu prüfen, ob überhaupt eine Publikation 
in der Gesetzsfammlung resp. in den Amtsblättern oder in der ortsüblichen Weise 
(Polizeiverordnungen der Behörden) und ob sie in der gehörigen Form stattgefunden 
habe; zu der gehörigen Form gehört aber bei Gesetzen und königlichen Verordnungen 
lediglich die Kontrasignatur eines Ministers, nicht aber die Erwähnung der Zu- 
stimmung des Landtags in der Publikationsformel der Gesetze, und nicht die Kontra- 
signatur des gesammten Staatsministeriums bei provisorischen Verordnungen mit Ge- 
setzeskraft, die letztere gehört bereits zu den Erfordernissen der inneren Rechtsgültigkeit, 
es wäre denkbar, daß eine solche Verordnung mit einem besonderen Publikationspatent 
ohne die eigentliche Publikationsformel veröffentlicht würde. Dagegen steht eine materielle 
Prüfung den Preußischen Gerichten nur in Bezug auf die Polizeiverordnungen der 
Behörden zu, hinsichtlich deren sie vor der Anwendung die Uebereinstimmung mit 
den im Gesetze vom 11. März 1850 vorgeschriebenen allgemeinen Normen festzustellen 
haben, nicht aber darüber, ob die königl. Ausführungsverordnungen etwa in das 
Gesetzgebungsgebiet übergreifen, ob sie dem Inhalte des auszuführenden Gesetzes ent- 
sprechen, auch darüber nicht, ob die auf Grund von Art. 63 erlassenen Noth- 
 
	        
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