Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Rechtsmittel. 295 
alter, I. S. 268 ff.) bestand in der Behauptung, daß der Richter, welcher das an- 
gegriffene Urtheil fand, pflichtwidrig gehandelt habe, verbunden mit dem Vorschlage 
eines besseren Urtheils. Das Urtheil schelten konnten nicht nur die Parteien, sondern 
auch jeder Umstehende, sogar ein Mitglied des Gerichtes selbst, sobald nur ein 
Schöffe seine Meinung geäußert hatte. Das weitere Verfahren beschränkte sich als- 
dann ursprünglich auf den Streit zwischen dem Schelter und dem Gescholtenen. Daß 
die Entscheidung durch einen höheren Richter erfolgen mußte und sich auf den ur- 
sprünglichen Parteienstreit bezog, ist erst ein Ergebniß der späteren Entwickelung. — 
Von einem wirklichen R.systeme konnte erst nach Reception der fremden Rechte die 
Rede sein. Hier war vor Allem das Römische Recht maßgebend, dem ursprünglich 
ebenfalls R. fremd waren. Die provocatio ad populum, die als solches erscheinen 
könnte, hatte einen durchaus politischen Charakter, sie sollte nicht eine gerechtere Ent- 
scheidung herbeiführen, sondern die Gewalt gewisser Beamten beschränken. Auch in 
der Kaiserzeit war die Berufung an das Staatsoberhaupt anfänglich wol nur den 
Magistraten gegenüber zulässig, die auf Grund einer kaiserlichen Delegation Recht 
sprachen (vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht, II. S. 927 ff.). Mit der 
immer weiteren Ausdehnung dieser Delegation wurde die appellatio ein wesentlicher 
Bestandtheil des Strafverfahrens, das sich in dieser Beziehung formell nur wenig 
vom Civilprozeß unterschied (vgl. Geib, Geschichte des Römischen Kriminalprozesses, 
S. 675 ff.). Uebrigens konnte das Urtheil auch ohne Appellation aus manchen 
Gründen als nichtig ausgehoben werden, val. titt. D. quae sententiae sine appel- 
latione rescindantur (49, 8), C. duando provocare necesse non est (7, 44). Das 
Kanonische Recht entwickelte die römisch-rechtlichen Grundsätze weiter, und so war es 
denn bezüglich des Akkusationsprozesses zweifellos, daß sowol Kläger wie Beklagter 
sich der Appellation bedienen konnten. Bezüglich des Inquisitionsprozesses war das 
zweifelhaft und jedenfalls die Appellation an das Reichskammergericht verboten. Dies 
war ein Zugeständniß an die Territorialgewalt, ohne daß die betreffenden Reichs- 
gesetze (z. B. Abschied des Reichstages zu Augsburg 1630 § 95; Kammer- 
gerichtsordnung von 1555 Th. II. Tit. 28 § 5) über die Zulässigkeit von R. inner- 
halb der Territorien selbst etwas hätten festsetzen wollen. Man nahm jedoch das 
Gegentheil an, und diese Ansicht, der auch Carpzowm beitrat, behielt in den Landes- 
gesetzgebungen das Uebergewicht. Da jedoch thatsächlich R. nicht zu entbehren waren, 
führte man ebenfalls auf Grund der Autorität Carpzow's ein Remedium ul- 
terioris defensionis ein. Auch der Rekurs an den Landesherrn wurde stellenweise 
zugelassen, jedoch konnte derselbe nur auf dem Wege der Gnade nachgesucht werden. 
Allmählich jedoch kam auch die Appellation wieder in Aufnahme, so daß zuletzt, ab- 
gesehen von der zulässigen Beschwerde gegen vorläufige Festsetzungen und der In 
integrum restitutio contra rem iudicatam (Wiederaufnahme des Verfahrens) als 
R. des Gemeinen Strafprozesses erscheinen: 1) die Appellation, 2) die weitere Ver- 
theidigung, 3) die Nullitätsquerel. Die Appellation (Provokation, Berufung) sowie 
die weitere Vertheidigung (Läuterung, Supplikation, Revision) waren auch gegen 
Zwischenurtheile zulässig und bezweckten eine Abänderung der ersten Sentenz, welche 
sie als iniqua bezeichnen, eventuell auf Grund neuer Thatsachen, so daß eine Nach- 
instruktion nöthig werden konnte. Sie unterschieden sich dadurch, daß die Appellation 
stets Devolutiv= und Suspensiv-Effekt hatte, dafür aber an bestimmte Formen und 
Fristen gebunden war, während die Supplikation eine Devolution niemals und eine 
Suspension nur dann herbeiführte, wenn sie innerhalb des Decendium (der zehn- 
tägigen Appellationsfrist) eingelegt war. Sie konnte so lange wiederholt werden, 
bis tres conformes sententiae ergangen waren. Die Nullitätsquerel (Nichtigkeits- 
beschwerde) stützte sich auf die Behauptung, daß das erste Urtheil formell ungültig 
sei: Sie hatte stets Devolutiv= und Suspensiv-Effekt und führte nie Abänderung, 
sondern Aufhebung oder Bestätigung des früheren Urtheils herbei. Außerdem kommt
	        
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