Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Reichskanzler. 395 
Abs. 1), der Bundesrath ist hierbei in keiner Weise betheiligt; die Entlassung des 
R. erfolgt gleichfalls durch den Kaiser. Der R. kann jederzeit vom Kaiser zur Dis- 
position gestellt oder pensionirt werden; er kann ferner jederzeit seine Entlassung 
fordern und hat nach zweijähriger Dienstzeit immer Pensionsanspruch (Reichsbeamten- 
gesetz vom 31. März 1873, 8§ 25, 35). 
Für das Amt des R. sind materiell zwei Reihen von Funktionen zu unter- 
scheiden: die eine derselben bezieht sich auf den Vorsitz im Bundesrathe, die 
andere auf die oberste Verwaltung im Reiche. 
1) Der R. ist nach der Verfassung Vorsitzender des Bundesrathes. Als solcher 
hat er die Leitung der Geschäfte desselben (R erf. Art. 15, Abs. 1). Daraus ergiebt 
sich, daß der R. jedenfalls Bevollmächtigter zum Bundesrath sein muß; daß er 
Preußischer Bevollmächtigter sein müsse, ist zwar nicht positiv in der Verfassung vor- 
geschrieben, wol aber folgt das indirekt aus dem zwischen dem Kaiser und dem R. 
bestehenden Rechtsverhältniß (ganz abgesehen von thatsächlichen Verhältnissen) mit 
Nothwendigkeit. Der R. kann sich kraft schriftlicher Substitution im Vorsitz des 
Bundesrathes durch jedes Mitglied vertreten lassen, ohne daß hierzu kaiserliche Ge- 
nehmigung erforderlich wäre; ist kein Preußischer Bevollmächtigter anwesend, so führt 
Bayern den Vorsitz. (Versaill. Schlußprot. Z. IX. Die Interpretation dieser Be- 
stimmung von Hänel (Studien, II. 25)l ist schwerlich zutreffend.) Als Vorsitzender 
des Bundesrathes eröffnet der R. alle Einläufe und entscheidet in minder wichtigen 
Sachen selbst, die übrigen sind dem Bundesrathe vorzulegen. 
2) Der R. ist ferner Chef der Reichsverwaltung. Derselbe hat nach der Ver- 
fassung alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers (ausgenommen nur die kraft 
des militärischen Oberbefehles erlassenen) zu kontrasigniren mit dem Rechtseffekt: 
1) daß durch diese Kontrasignatur die kaiserlichen Anordnungen gültig werden und 
2) daß die konstitutionelle Verantwortlichkeit des R. hierdurch begründet wird (RVerf. 
Art. 17). Der R. ist nach der Verfassung dereinzige verantwortliche 
Reichsminister. Für Anordnungen des Bundesrathes besteht keine Verantwortlich- 
keit des R. Die Verantwortlichkeit des R. deckt einerseits den Kaiser, welcher als zwar 
nicht alleiniger, aber Mitträger der Reichssouveränetät nach monarchischem Staats- 
recht unverantwortlich ist; die Verantwortlichkeit des R. involvirt andererseits die 
staatsrechtliche Haftung für die Thätigkeit aller untergeordneten Behörden. Die 
Thätigkeit aller dieser Behörden ist in letzter Instanz Thätigkeit 
des R. Kraft dieser allgemeinen Grundsätze mußte dem R. auch das Recht zu- 
gesprochen werden, in die Thätigkeit aller Reichsbehörden jederzeit einzugreifen; an- 
erkannt ist dies auch bezüglich der Verwaltungsbehörden, positiv ausgeschlossen da- 
gegen für die Gerichte (GVG. § 1) und den Rechnungshof, nur in wesentlich mo- 
difizirter Weise anerkannt für die übrigen Finanzbehörden des Reiches. 
Die Verantwortlichkeit des R. beruht lediglich auf den unbestimmten Vor- 
schriften der RVerf. Art. 17. Daraus wird juristisch nur gefolgert werden 
können, daß der R. dem Reichstage Rechenschaft abzulegen nicht verweigern darf. 
Weitere Rechtsfolgen aber sind an die Verantwortlichkeit des R. nicht geknünpft. 
In der Reichsverwaltung kann der R. nach dem Gesetz vom 17. März 1878 
(R.G.Bl. 7) Stellvertreter erhalten. Und zwar kann nach dem Gesetz ein- 
mal ein allgemeiner Stellvertreter des R. (Vizekanzler), sodann können Stell- 
vertreter für ein zelne Ressorts der Reichsverwaltung bestellt werden. Die Er- 
nennung solcher Stellvertreter erfolgt durch den Kaiser auf Antrag des R.; dem 
Bundesrath steht eine Mitwirkung nicht zu. Die Institution dieser Stellvertretung 
ist nur ein fakultativer Bestandtheil des Reichsstaatsrechtes (der Kaiser — — „kann“"). 
Die Stellvertretung darf gesetzlich nur eintreten „in Fällen der Behinderung“ des 
R.; die Interpretation dieser Worte in der Praxis erfolgte dahin, daß als „Be- 
hinderung“ vor allem der ungeheuere Umfang, welchen die amtlichen Funktionen des 
R. mit der Zeit angenommen hatten, betrachtet wurde. Die vom Kaiser ernannten 
 
	        
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