412 Reichstag.
kein Reichsgesetz juristisch existent werden kann, ohne daß der R. den Inhalt
desselben genehmigt hätte. Der R. kann auch die Initiative zum Erlaß von Ge—
setzen ergreifen: in der Regel aber gelangen die Gesetzentwürfe erst nach erfolgter
Feststellung des Inhaltes im Bundesrathe an den R. Der Verkehr zwischen Bun—
desrath und R. ist durch das Präsidium des letzteren und den Reichskanzler zu
vermitteln. Gesetzentwürfe, welche zuerst vom R. beschlossen werden, müssen jeden-
falls vom Reichskanzler dem Bundesrath in Vorlage gebracht werden, letzterer ist
aber nicht verpflichtet, einen materiellen Beschluß über die Vorlage zu fassen, wäh-
rend der R. hinsichtlich der vom Bundesrath an ihn gebrachten Vorlagen dies zu
thun rechtlich verbunden ist. Die Vorlage der vom Bundesrath festgestellten Gesetz-
entwürfe an den R. geschieht durch den Reichskanzler „im Namen des Kaisers“;
von sich aus die Initiative zum Erlaß von Gesetzen zu ergreifen, ist der Kaiser als
solcher nicht kompetent (wol aber das Bundesglied Preußen). Gesetzentwürfe, welche
der Bundesrath festgestellt hat, müssen jedenfalls durch den Kaiser dem R. in Vor-
lage gebracht werden, und zwar in unveränderter Fassung. Ergeben sich Differenzen
zwischen Bundesrath und R., so ist so lange zu verhandeln, bis entweder Ueberein-
stimmung beider oder Ablehnung in Folge verneinenden Beschlusses eines der beiden
Faktoren erzielt ist. (Ueber die Sanktion der Reichsgesetze s. d. Art. Bundes-
rath.) Von der Theilnahme des R. an der Gesetzgebung noch eine besondere
Gruppe von Materien zu sondern, in welchen der R. eine juristisch besonders zu
fassende „Genehmigung“ zu ertheilen habe (Laband), ist unbegründet. Auch das
Budgetgesetz kann staatsrechtlich nicht unter besondere, von der übrigen Gesetzgebung
abweichende Grundsätze gestellt werden (dies nehmen Laband und Gneist an:
dagegen hat sich insbesondere v. Martitz erklärt). — Dem R. steht endlich ein
ganz generelles Kontrolrecht bezüglich aller Reichsangelegenheiten zu; dasselbe wird
geübt bei der Berathung des Reichshaushaltsetats, kann aber auch die Form der
Interpellation annehmen und ebenso durch Petitionen von außen angeregt werden.
Die Kontrole des R. bezieht sich insbesondere auf die Finanzwirthschaft des Reiches:
über die Verwendung aller Einnahmen und Ausgaben des Reiches hat der Reichs-
kanzler alljährlich dem R. Bericht zu erstatten und dessen Decharge einzuholen.
Ueber alle bedeutenderen einzelnen Finanzverwaltungen des Reiches übt der R. ferner
noch eine spezielle Kontrole aus, indem diese Verwaltungen an die Reichsschulden-
kommission Bericht zu erstatten haben, in welcher der R. durch drei gewählte Mit-
glieder vertreten ist, die ihrerseits wieder dem Plenum des R. referiren.
V. Die Verhandlungen des R. Die Berufung des R. erfolgt durch kaiserliche
Verordnung. Die Verhandlungen werden vom Kaiser oder in seinem Auftrag durch
einen Stellvertreter eröffnet. In der nämlichen Weise werden dieselben geschlossen.
Nur der Kaiser kann den R. während der Sitzungsperiode vertagen, wiederholte
Vertagung aber sowie eine Vertagung von über 30 Tagen bedarf der Zustimmung
des R. selbst. Mit Schluß des R. hören auch alle Kommissionsarbeiten auf (nur
ausnahmsweise können die Arbeiten bestimmter Kommissionen auf Grund eines Reichs-
gesetzes auch nach Schluß des R. fortgesetzt werden), und alle Vorlagen werden her-
kömmlich neu behandelt (Prinzip der „Diskontinuität“). Die Verhandlungen sind
öffentlich, geheime Sitzungen wären verfassungswidrig; der Präsident kann jedoch
bei Ruhestörungen die Tribünen räumen lassen. Die Mitglieder des R. werden
beim Zusammentritt desselben in Abtheilungen verloost, welchen speziell die Prüfung
der Wahlen obliegt. Außerdem werden nach Erforderniß noch besondere Kommis-
sionen, speziell zur Vorberathung von Gesetzen bestellt. Die Kommissionssitzungen
sind geheim. Alle Gesetzentwürfe sowie alle vom Bundesrath an den R. geleiteten
Vorlagen müssen dreimal berathen werden, die erste Berathung ist nach der Ge-
schäftsordnung nur eine allgemeine, die artikelweise Diskussion erfolgt erst bei der
zweiten „Lesung“. Ueber die Zeitfristen, welche zwischen den verschiedenen „Lesungen“
liegen müssen, sowie über die eventuelle Verbindung mehrerer Lesungen enthält die