Retorsion. 463
Unbillige Einzelbestimmungen kommen entweder vor bei Ein= und Ausfuhrverord-
nungen (Vattel, lI. c.), oder Erbschaften, z. B. das beseitigte droit d'aubaine,
oder Konkursen durch Bevorzugung einheimischer Gläubiger vor den auswärtigen
(Klüber, § 58; Wurm, 464). Nicht Alles, was dem Rechte gemäß zu fordern
ist, darf nach Billigkeit gefordert werden, sondern werden die begründeten Forderungen
dieser durch die zu verwirklichende internationale Gemeinschaft zu begrenzen sein,
soweit solche Forderungen nicht schon auf Grund des Rechts erhoben werden
können. — Der Zweck der R. ist nicht Strafe (wogegen Wurm (459] remonstrirt),
sondern nur Abstellung der verletzenden Unbilligkeit oder Herstellung einer Gleichheit
(Martens, l. c.; Heffter, I. c.). Ist dieser Zweck erreicht, so hat die R. auf-
zuhören. Die erwiedernde Unbilligkeit kann eine der zu erwiedernden gleiche oder
ähnliche oder möglichst ähnliche, und muß gleich schwer sein (Moser, VIII. 489;
Heffter, 1. c.; Burchardi, 499), daß sie aber den gegnerischen Staat nicht
gleich empfindlich trifft, berechtigt nicht zur Steigerung des Maßes oder gar der
Art (Wurm, 460). Zu den zur Ausführung der R. gewählten Mitteln muß der
Staat selbst, ohne die ihm gebotene Veranlassung, vollkommen befugt sein, denn „R.
ist die Erwiederung eines von keiner Seite bestreitbaren Rechts“ (Wurm, l. c.).
Die Ausführung der R. zu bestimmen ist nicht, wie Phillimore (III. 8 ff.)
meint, lediglich Sache des Staatsrechts, sie ist gebunden an die vorstehend auf-
geführten völkerrechtlichen Sätze. Der Anwendung der R. muß aber eine gütliche
Verhandlung (Moser, VIII. 488 hält es gerade nicht für nöthig, aber der Freund-
schaft dienlich), insbesondere ein Antrag an die jenseitige Staatsgewalt vorausgehen;
dieser wird besonders dann das zunächst allein zulässige sein, wenn ein Staat einen
unbilligen Grundsatz nur aufgestellt, aber noch nicht durchgeführt hat, sofortige R. gegen
denselben (Heffter, 1. c.) wäre völlig ungerechtfertigt. Erst wenn trotz des An-
trages keine Billigkeit mehr zu hoffen (Berner, 597) oder die Gegenvorstellungen
erschöpft find (Phillimore, I. 13), ist die Anwendung der R. berechtigt. — Ver-
fügen kann eine R. nur die Staatsgewalt, da nur ihr die Souveränetät und somit
auch das Recht der Selbsthülfe gegen andere Staaten zusteht. Eines legislativen
Beschlusses dazu (Heffter, l.c.) bedarf es nur bei Gesetzesänderungen (Burchardi,l.q,
sonst aber umsoweniger, als ein solcher nicht einmal zur Verfügung des äußersten
Rechtsmittels, des Krieges, erforderlich ist. Das einer jeden Behörde innerhalb ihres
Geschäftskreises und der obersten Gerichtsstelle in Justizsachen zugesprochene Recht der
R. verfügung (ersteres von Burchardi, l. c., letzteres von Wurm, 474) wider-
spricht, abgesehen davon, daß Gericht und Behörden keine Souveränetätsrechte als
solche haben und üben können, der nothwendigen Einheit der Willensbestimmung,
Vertretung und Aktion des Staates nach Außen. Dagegen, daß die unmittelbare
(R.-) Hülfe durch die Obrigkeiten auch ohne höhere Autorisation in unseren gegen-
wärtigen Zuständen nicht entbehrt werden könne (Burchardi, 500), spricht die
gerade in unserer Zeit durchgeführte strenge Behördenhierarchie und die Abhängigkeit
aller Organe von dem höchsten, der Staatsgewalt, als auch der heutzutage geförderte,
wesentliche Verzögerungen ausschließende Verkehr. Nicht je nach Beschaffenheit der
Umstände, wie Moser (IX., II. 521) meint, sondern unbedingt ist die Erlaubniß
des Souveräns zur R.übung erforderlich, und zwar sowol für Behörden als Ein-
zelne (Heffter, 1. c.; Berner, lI. c.). Moser (VIII. 487) hält den Befehl
des Landesherrn bei R.übungen durch Unterthanen in Sachen, die ihr Privat-
interesse betreffen, für unnöthig. Die Behörden sind bei R.übungen nur die die
Staatsverfügung ausführenden Organe. Ob aber Einzelnen die R.ausübung zu
gestatten und ob sie dieselbe nach den gewöhnlichsten Erscheinungsformen der Aus-
übung überhaupt als Einzelne zu üben vermögen und Veranlassung haben, erscheint
uns zweifelhaft, da völkerrechtlich jede Selbsthülfe des Einzelnen immer mehr ver-
sagt ist, da die zu retorquirende Unbilligkeit selten gegen einen Einzelnen, vielmehr
in der Regel gegen eine ganze Klasse der Bevölkerung, z. B. Handeltreibende oder