Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Retorsion. 465 
Die gemeinrechtliche Praxis nahm früher allgemein an, daß bei wechselseitigen 
Beleidigungen von gleicher Schwere Kompensation stattfinden müsse. Man dachte 
dabei aber (unter Berufung auf 1. 10 § 2 D. de compens. 16, 2) nur an Privat- 
strafen. Später wendete man diesen Grundsatz, indem man nicht scharf zwischen 
Kompensation und R. unterschied, auch auf öffentliche Strafen an. Da man 
die R., welche vielfach als ein Recht aufgefaßt wurde, nicht zu Gunsten des ersten 
Beleidigers geltend machen konnte, so schloß man für diesen aus dem Grunde Klage 
und Strafe aus, weil der erwiedernde Beleidiger sich selbst Recht verschafft und 
dadurch auf die Klage verzichtet habe. Stillschweigende Voraussetzung war hierbei 
stets, daß die beiden Beleidigungen ungefähr gleiche Strafen nach sich gezogen hätten. 
Die Kompensation öffentlicher Strafen, selbst bei dem Antragsvergehen der Be- 
leidigung, zu dessen Gunsten so viele Ausnahmen von allgemeinen Regeln gemacht 
zu werden pflegen, ist jedoch unhaltbar, da nicht abzusehen ist, weshalb durch R. 
das öffentliche Interesse an der Bestrafung befriedigt sein soll. Ebensowenig kann 
ein Recht auf R. anerkannt werden. Es kann sich deshalb heute nicht mehr um 
Strafausschließung, sondern nur noch um Strafmilderung bei der R. handeln. Man 
muß dann aber, mehr als dies früher geschah, den Nachdruck darauf legen, daß die 
R. auf der Stelle eintrat. Und zwar kommt auf Seiten des erwiedernden Be- 
leidigers der Affekt in Frage. Da aber nicht jede R. im Affekt erfolgt, so ist es 
dem richterlichen Ermessen zu überlassen, ob dieselbe im konkreten Falle bei der Fest- 
setzung der Strafe zu berücksichtigen sei. Für den ersten Beleidiger können wol 
nur Billigkeitsrücksichten dahin führen, unter Umständen auch gegen ihn eine mildere 
oder gar keine Strafe zu verhängen, z. B. in dem Falle, wenn die erwiederte Be- 
leidigung die erste an Schwere bedeutend überstieg. Am richtigsten ist es wol, in 
dem Straf GB. hinsichtlich der R. überhaupt keine Bestimmung zu treffen, besonders 
da nicht, wo der Strafrahmen für die Beleidigungen schon derartig ist, daß das 
angedrohte mit dem gesetzlichen Minimum der Strafarten übereinstimmt, der Affekt 
also hinreichend bei der Festsetzung der konkreten Strafe berücksichtigt werden kann. 
Nicht zu billigen sind die Bestimmungen des Deutschen Straf G., nicht blos des- 
halb, weil die R. als Strafausschließungsgrund, sondern weil sie auch bei leichten 
Körperverletzungen aufgestellt ist. Diese letztere Vorschrift ist aus dem Preuß. Straf GB. 
übernommen, welches Realinjurien und leichte Körperverletzungen nicht von einander 
trennte, und hatte dort ihre Berechtigung. 
Nach §§ 199 und 233 des Deutschen Straf GB. hängt die Berücksichtigung der 
R. bei der Strafzumessung von folgenden Bedingungen ab: 
1) Es müssen zwei Beleidigungen oder eine Beleidigung und eine leichte Körper- 
verletzung vorliegen, gleichviel ob die erstere durch die letztere oder die letztere durch die 
erstere erwiedert ist. Diese strafbaren Handlungen müssen in einem ursachlichen Zu- 
sammenhange stehen. Hierhin zu zählen sind, abgesehen von § 189, alle nach dem vier- 
zehnten Abschnitte, nicht aber die nach dem zweiten bis vierten Abschnitte des Straf G. 
zu bestrafenden Beleidigungen. In Betreff der Körperverletzungen ist zu bemerken, 
daß die im § 223 a aufgeführten hier nicht zu berücksichtigen sind. Der Begriff der 
R. ist nicht ausgeschlossen, wenn es sich um wiederholte Beleidigungen und Körper- 
verletzungen handelt. Die Erwiederung setzt nicht nothwendig Gleichartigkeit der Be- 
leidigungen voraus; schriftliche kömnen mit mündlichen, Verleumdungen mit einfachen 
Beleidigungen u. dgl. erwiedert sein; nur muß die Erwiederung von Seiten des ersten 
Beleidigten erfolgen. 
2) Die Erwiederung muß auf der Stelle eingetreten sein. Für die Inter- 
pretation dieser Worte lassen sich keine allgemeine Regeln aufstellen. 
Bei Vorhandensein dieser beiden Bedingungen kann der (erkennende) Richter 
die R. als Strafausschließungs= oder Milderungsgrund berücksichtigen; bei Be- 
leidigungen können beide Theile oder auch nur der eine straffrei erklärt werden; bei 
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 30
	        
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