580 Sanitätspolizei.
Räthe als Referenten zugeordnet sind. Wenn in Preußen die Medizinalangelegen-
heiten einschließlich der S. seit 1817 theilweise und seit 1849 vollständig dem
Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten zugetheilt sind, so bildet
diese in Europa einzig dastehende Einrichtung eine Anomalie, welcher von sachver-
ständigen Stimmen einige Mitschuld an der mangelhaften Gestaltung der staatlichen
Gesundheitspflege in Preußen zugeschrieben wird.
Dem verantwortlichen politischen Leiter der staatlichen Sanitätspflege muß außer
den medizinischen Referenten, welche die laufenden Aufsichtsgeschäfte besorgen, auch
eine berathende wissenschaftliche Centralinstanz zur Seite und zur
Verfügung stehen, welche über alle prinzipielle, zu Zweifel Anlaß gebende Fragen
ein maßgebendes Votum abzugeben und dadurch sowol den leitenden Verfügungen
des Ministers, wie den ausführenden Maßregeln der Provinzial= und Ortsbehörden
die erforderliche Gleichmäßigkeit und die öffentliche Gewähr einer zuverlässigen wissen-
schaftlichen Begründung zu verleihen geeignet ist. Eine solche Gewähr kann nie
ein einzelner Sachverständiger allein bieten, theils wegen der großen Mannigfaltigkeit
der wissenschaftlichen Spezialkenntnisse, welche bei prinzipiellen Entscheidungen über
sanitäre Einzelfragen in Konkurrenz zu treten haben, theils auch wegen der Gefahr
persönlicher Voreingenommenheiten, von denen selbst die tüchtigsten Gelehrten und
Techniker sich nicht immer frei zu erhalten vermögen. Man hat daher, wie in den meisten
ausländischen, so auch in allen größeren Deutschen Staaten Kollegien aus den hervor-
ragendsten Vertretern der hygieinischen Wissenschaft und Praxis gebildet — in den süd-
deutschen Staaten unter Hinzuziehung gewählter Vertreter des ärztlichen Standes —,
welchen der Minister die ihm vorkommenden zweifelhaften Fälle zur Begutachtung
vorlegt; in Preußen fungirt als solches Kollegium die wissenschaftliche! Depu-
tation für das Medizinalwesen, in Bayern der Obermedizinalaus-
schuß, in Sachsen das Landesmedizinalkollegium u. s. w. Das seit 1876 errichtete
„Kaiserliche Gesundheitsamt sollte seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß
eine analoge, die Deutsche Reichsregierung berathende Körperschaft bilden, ist aber schon
vermöge der ihm vom Reichskanzler ertheilten büreaukratischen Organisation, welche
das alleinige Gutachten des Direktors auch in technischen und wissenschaftlichen Fragen
maßgebend macht, außer Stande seiner Bestimmung gerecht zu werden.
Ein hinderndes Moment für die Entwickelung namentlich der örtlichen S.
in den meisten Deutschen Staaten, und insbesondere in Preußen, liegt in der sehr
unzureichenden Besoldung der ärztlichen Beamten, welche für ihren Lebensunter-
halt fast ausschließlich auf die Ausübung ärztlicher Praxis angewiesen sind, so daß
ihnen wenig Zeit und Kraft bleibt, die ihnen anvertrauten öffentlichen Interessen
mit Fleiß und Nachdruck wahrzunehmen, viel weniger noch sich zu diesem Zwecke
auf der Höhe der fortschreitenden Wissenschaft zu erhalten. Als praktizirende Aerzte
gerathen dieselben auch in eine gewisse Abhängigkeit von Klientenrücksichten, welche
die im öffentlichen Dienste erforderliche Unparteilichkeit und Energie leicht in Frage
stellen. Endlich kommt dazu, daß die Medizinalbeamten in fast allen Deutschen
Staaten den Schwerpunkt ihrer Amtswirksamkeit in den Verrichtungen der gericht-
lichen Medizin angewiesen erhalten und daher auch ihre Aufmerksamkeit vielmehr
diesem Zweige der öffentlichen Medizin zuwenden, als der S. So lange diese
Uebelstände bestehen, kann von ärztlichen Gesundheitsbeamten in dem Sinne, wie
solche z. B. in England bestehen, in Deutschland nicht die Rede sein, und erst nach
einer zeitgemäßen, auch auf diese wichtige Frage sich erstreckenden allgemeinen
Medizinalreform, wie sie in sachverständigen Kreisen einstimmig als Bedürfniß
empfunden wird, kann eine gedeihliche Entwickelung des Sanitätswesens in Deutsch-
land erwartet werden.
Lit.: Nicolai, Grundriß der S., Berlin 1835. — R. v. Mohl, Die Polizeiwissenschaft
nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Tübingen 1866. — Schürmayer, Handbuch der
medizinischen Polizei, Erlangen 1848. — Pappenheim, Handbuch der S., Berlin 1868. —