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gehandhabt. Der Geist der Toleranz geht indessen doch nicht weiter als bis zur Duldung
einer Religionsübung über die Grenzen eines exercitium religionis privatum hinaus,
zur Zulassung der einzelnen Bekenner zu den bürgerlichen und politischen Rechten
und allenfalls auch zur Admission einzelner Dissidenten zu den öffentlichen Unterrichts-
anstalten. Der streng konfessionelle Charakter der Unterrichtsanstalten wie der
Staaten bildet bis zum Schluß des XVIII. Jahrhunderts die entschiedene Regel der
europäischen Welt.
Erst seit der Französischen Revolution hat die neu gestaltete staats-
bürgerliche Gesellschaft die völlige Gleichheit ihrer Mitglieder ohne Rücksicht auf ein
Glaubensbekenntniß zu ihrem Lebensprinzip und „Grundrecht“ erhoben, dessen Aus-
führung aber alsbald auf Hindernisse stieß. Die erstrebte Gleichheit konnte nicht
darin bestehen, daß allen dissidentischen Bekenntnissen und Sekten die Privilegien
und obrigkeitlichen Rechte der historischen, mit dem Staatswesen verwachsenen
Kirche beigelegt wurden. Der umgekehrte Versuch, diese „Kirche“ zu ignoriren und
mit Beseitigung aller ihrer Rechte, Privilegien und Besitzungen die Kirchengemein-
schaft nur als eine Privatgesellschaft zu behandeln, ließ sich nur in einem Schreckens-
regiment auf kurze Zeit verwirklichen. Der endliche Erfolg beschränkte sich daher
auf eine äußerliche Auseinandersetzung, bei welcher die Staatskirche als solche
stehen blieb, neben ihr aber den einzelnen Bekennern anderer Denominationen
die bürgerliche Rechtsgleichheit, den einzelnen Gemeinden die öffentliche Religions-
übung, ihren größeren Verbänden ein gewisses Maß der Selbstverwaltung gewährt
wurde. Es war damit den dissidentischen Bekenntnissen auch die Errichtung eigener
Schulen überlassen. In ungleichem Maße wurde ihnen auch eine Zulassung zu den
höheren, altprivilegirten Unterrichtsanstalten gewährt. Dagegen blieb im Vermögens-,
Familienrecht und im Verwaltungsrecht des Staats die „Kirche“ doch wesentlich in
ihrem Besitzstand, die kirchlichen Behörden ausschließlich mit einer obrigkeitlichen
Würde bekleidet, ihre Geistlichkeit in Besitz der alten Immunitäten. Das alte
Staatskirchenrecht, soweit es nicht ausdrücklich durch Gesetze modifizirt war, galt noch
als ergänzendes gemeines Landesrecht. Im Staatsceremonial, in den öffentlichen
Einrichtungen und in der Volkssitte blieb der konfessionelle Charakter des Staats-
verbandes stehen. Im Unterrichtswesen entstand daraus eine thatsächlich koordi-
nirte Stellung der staatskirchlichen und der Staatsorgane unter vielen Schwankungen
und Reibungen. Während in Frankreich dem Namen nach das gesammte Unterrichts-
wesen unter die centralisirte Leitung des Staats trat, blieb doch der wiederher-
gestellten Hierarchie ein sehr breiter, von Zeit zu Zeit vorherrschender Einfluß. In
der Mehrzahl der romanischen Staaten blieb das alte Verhältniß der Römischen
Kirche bestehen, und nur von Zeit zu Zeit drängte das staatliche Aufsichtsrecht im
Interesse der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit den kirchlichen Einfluß zurück.
Die tolerirten Minoritäten evangelischen Bekenntnisses haben in Europa der römisch-
und der griechisch-katholischen Kirche gegenüber nur die rechtliche Gleichheit der
Einzelnen, die öffentliche Religionsübung, die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten,
nicht aber eine Gleichberechtigung ihres Kirchenregiments erlangt.
II. Die Eigenthümlichkeit der Deutschen Entwickelung im Gegen-
satz aller anderen Staaten Europa's besteht nun darin, daß seit der Reformation
eine Mehrheit von „Kirchen“ mit der Deutschen Landeshoheit verwachsen ist auf
Kosten unserer politischen und nationalen Einheit. Seit dem Westfälischen Frieden
zertheilt sich Deutschland in geschlossene, ziemlich abgerundete Gebiete, welche einer-
seits. der Römischen Kirche, andererseits dem Bekenntniß der Augustana zugehören.
Die katholischen, lutherischen und reformirten Einzelstaaten nehmen nun zunächst
denselben Entwickelungsgang wie die konfessionellen Staaten Europa's. Es kommt
zuerst zur Geltung ein System der „Toleranz“, welches durch Ausdehnung des
Aussichtsrechts, durch die allgemeine Einführung des placet regium, durch eine er-
weiterte Einwirkung auf die obrigkeitliche und Vermögensverwaltung der „Kirche“