Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Schwurgericht. 623 
überlieferten Traditionen des inquisitorischen Verfahrens dauernde Abhülfe gewähren 
könne. Für die Neugestaltung des Prozeßrechts wurde das Beispiel Frankreichs maß- 
gebend, wo eine ähnliche Entwickelung schon 1791 zur Aufnahme der Geschworenen- 
gerichte geführt hatte. Die Bewegung, welche sich in Deutschland dasselbe Ziel 
setzte, hielt sich zunächst an die von dem Englischen Typus vielfach abweichende 
Form der Französischen Jury und war von derselben hochpolitischen Auffassung 
durchtränkt, welche schon 1790 in den vorbereitenden Debatten der Französischen 
Nationalversammlung zur Geltung gekommen war und seitdem sehr zu Ungunsten 
der S. auf lange Zeit hinaus die herrschende geblieben ist. Trotz diesen und anderen 
Irrthümern, trotz ungerechtfertigter Ueberschätzung und kurzsichtiger Anfeindung haben 
die S. sich zunächst in den einzelnen Staaten Deutschlands eingebürgert und sind 
sie dann durch das GWVG. und durch die RötrafP/CO. zu einer Institution des 
Deutschen Reichsrechtes erhoben worden. 
Der thatsächlichen Entscheidung des Kampfes über die Reform des Deutschen 
Strafverfahrens ging eine lebhaft geführte literarische Fehde voraus, die zum Theil 
auf rechtsgeschichtlichem Boden ausgefochten wurde, da man sich nicht verhehlen 
konnte, daß die richtige Würdigung und Auffassung des Instituts einen Einblick 
in die historische Entwickelung desselben zur Voraussetzung habe. Zudem mußte das 
Dunkel, in welchem die Anfänge der vielbesprochenen Einrichtung verborgen lagen, 
zu geschichtlichen Untersuchungen anreizen. Die Zahl derselben ist darum Legion. 
Deutschland, England und Frankreich haben sich so ziemlich zu gleichen Theilen in 
die einschlägige Literatur getheilt. Die zur Lösung des Problems aufgestellten An- 
sichten gingen soweit auseinander, daß sie die Zahl der überhaupt möglichen 
Hypothesen so ziemlich erschöpften. Ihrer nationalen Herkunft nach wurde die Jury 
als Angelsächsisch, als Anglonormannisch, als Wälisch, als Urgermanisch, als Skan- 
dinavisch, als Fränkisch, als Normannisch oder gar als Slovisch bezeichnet, ja aus 
dem Römischen, dem Kanonischen und aus dem Orientalisch-Französischen Recht 
wurde sie hergeleitet. Ebenso bestritten war der juristische Ursprung des Instituts, 
das heißt die Frage, aus welcher prozessualen Einrichtung es sich entwickelt habe. 
Sehr verbreitet war früher die Hypothese, daß die Geschworenen aus den Germanischen 
Urtheilfindern herzuleiten seien. Mit Fug ist man hiervon abgegangen, um den 
ursprünglichen Sitz der Jury im Beweisverfahren zu suchen, indem man sie aus der 
Eideshülfe, aus dem „Voreide des Klägers bei handhafter That“, aus dem Zeugen- 
verfahren, aus einer Verbindung von Eidhelfern und Schöffen, oder von Eidhelfer- 
beweis und Zeugenbeweis oder aus dem nordischen Rechtsinstitut der Ernannten 
herstammen ließ. 
Das Englische Recht kennt eine Jury in Civilsachen, welche nur als Urtheiljury 
fungirte und auf dem Kontinente nicht rezipirt wurde, und eine Jury in Kriminal- 
sachen. Letztere kommt als Anklagejury und als Urtheiljury in Anwendung, von 
welchen jene nur in Frankreich zu einer blos vorübergehenden Rezeption gelangt 
ist. Die Civiljury ist älter als die Urtheiljury im Strafverfahren und mindestens 
ebenso alt wie die Anfänge der Anklagejury. Sie möge hier zunächst zur Er- 
örterung gelangen, da ihre Entwickelung zugleich den Schlüssel für das Verständniß 
der Kriminaljury darbietet. 
A. Die Civiljury. In ihrer Geschichte sind drei Entwickelungsstadien zu 
unterscheiden: das Stadium des Inquisitionsbeweises, das der Beweisjury und das 
der Urtheiljury, von welchen das erste der Fränkischen, das zweite der Normannischen 
und Anglonormannischen, das dritte der spezifisch Englischen Rechtsbildung angehört. 
a) Der Inquisitionsbeweis. Das Wesen dieses Beweismittels, welches 
uns zuerst in Kapitularien und Urkunden des Fränkischen Reiches Karolingischer Zeit 
in deutlich bestimmten Umrissen entgegentritt, liegt in dem Gegensatz zum formalen 
Beweisverfahren des Altdeutschen Prozeßrechts, insbesondere zum Zeugenverfahren, 
über welches Th. I. S. 169, 181 zu vergleichen ist. Das Frageverfahren (Inqujsitio)
	        
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