Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

632 Schwurgericht. 
2) Die Urtheilsjury in Strafsachen. 
Die Anwendung eines Inquisitionsbeweises in Kriminalsachen war dem Frän- 
kischen Recht unbekannt. Ihr stand namentlich der Grundsatz entgegen, daß in 
Strafsachen Niemand eine Ueberführung durch Zeugen zu dulden brauchte. Diese 
Anschauung haben das Altfranzösische, Normannische und Anglonormannische Recht 
gewahrt. Ein Beweisverfahren (und zwar ein formales) wurde nur durch Rüge 
oder Klage vermittelt. Die Klage in Kapitalsachen hatte sich zu einer kampf- 
bedürftigen ausgestaltet, indem der Kläger der Erhebung des Klagvorwurfs die Worte 
beifügen mußte: et hoc paratus sum probare per corpus meum, so daß der 
negirenden Antwort des Beklagten ein Kampfvertrag der Parteien folgte. Bei 
Kampfunfähigen vertrat ein Ordal die Stelle des gerichtlichen Zweikampfs. Diesem 
Verfahren stellt sich zuerst ausnahmsweise, dann fakultativ die Entscheidung durch 
eine Beweisjury zur Seite. In England und in der Normandie finden sich schon 
im 12. Jahrh. Beispiele dafür, daß der König dem durch Appell Beklagten ein in 
der Regel um Geld erwirktes Breve giebt, wodurch er ihm gestattet, sich auf den 
Spruch einer Jurata zu berufen. Zunächst blieb die Anwendung der Jurata auf 
Einreden beschränkt, so daß die Schuldfrage nur mittelbar erfaßt wurde. Allein in 
den Jahren Johann's häufen sich die Beispiele, daß der Angeschuldigte sich schlecht- 
weg „de bono et malo über die Schuldfrage selbst auf eine Inquisitio beruft, auf 
daß entschieden werde „utrum culpabilis sit vel non“. Ebenso fing man an, in 
Fällen der Rüge oder einer wegen vorliegender Verdachtsgründe ex ofticio erfolgten 
Anschuldigung die freiwillige Unterwerfung unter den Spruch einer Jury (se ponere 
super patriam, se mettre en enquête loiale) zu gestatten, der dann das einseitige 
Ordal, das sonst zur Anwendung gekommen wäre, ersetzte. 
Seit der Magna Charta (Art. 36) hängt die Berufung auf die Jury vom 
freien Belieben des Beklagten ab. Das Breve, welches die Jurata anordnete, sollte 
nicht mehr gegen Geld als Vergünstigung, sondern es sollte fortan umsonst gegeben 
werden und darf nicht verweigert werden. Bald darauf aber ließ man das Er- 
forderniß eines einleitenden Breve vollständig fallen, denn es traten Verhältnisse 
ein, die es nothwendig machten, die Jurata als ordentliches und unbeschränktes 
Beweismittel in das Kriminalverfahren aufzunehmen. Entscheidend hierfür wurde 
das Verbot der Ordalien durch die Kirche, welches 1219 in England reichsgesetzlich 
anerkannt wurde. Da die Ordalien das regelmäßige Reinigungesmittel gegen die 
Rüge gewesen, trat nun die Jurata, die loial Enquste, an deren Stelle. Doch hielt 
man in England und in der Normandie (von kaum bemerkenswerthen Schwankungen 
abgesehen) an dem Grundsatze fest, daß Jemand durch eine Jury nur dann in 
gültiger Weise schuldig gesprochen werden könne, wenn er sich auf den Spruch der 
Patria als sein Vertheidigungsmittel berufen hatte. Weigerte sich der Verdächtigte 
dessen, so suchte man in echt Englischem Geiste die Unterwerfung unter die Jury zu 
erzwingen, indem man gegen ihn die peine forte et dure anwendete, eine Marte- 
rung, die im Laufe der Zeit so sehr verschärft wurde, daß sie häufig den Tod des 
Inkulpaten zur Folge hatte. In Fällen des Appells wurde es dem Beklagten 
freigestellt, sich auf den angebotenen Kampfvertrag einzulassen oder sich einer Jury 
zu unterwerfen. Doch kam der gerichtliche Zweikampf allmählich außer Gebrauch 
und fand so selten statt, daß man sich erst im J. 1819 durch den Casus Thorton 
veranlaßt sah, ihn durch Parlamentsacte aufzuheben. 
Die Beweisjury, welche sich auf die angegebene Weise in Straffachen aus- 
gebildet, entlehnte ihre Formen der Jurata des Civilprozesses. Noch länger wie 
diese hat sie den Charakter der Beweisjury gewahrt. Der Ausbildung der Urtheils- 
jury geht auch hier ein Uebergangsstadium voraus, in welchem die Jury zugleich 
Beweis und Urtheilsjury ist. Leider sind die Nachrichten über die maßgebenden 
Uebergangsformen bezüglich der Kriminaljury noch unvollständiger und dürftiger wie 
bezüglich der Civiljury. Die Schrift, welche zuerst die Jury, als einen Vorzug
	        
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