Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Staatsrath. 757 
bedeutungsvoller, weltgeschichtlicher Beruf die Ueberwindung der ständischen Gegen- 
sätze der Europäischen Welt geworden ist. Ueberall erscheint nun in den größeren 
Staaten ein „Geheimrath“, Staatsrath oder analoger Körper, welcher Anfangs 
die Spitzen der geistlichen und weltlichen Stände mit den hohen Beamten aus 
persönlichem Vertrauen vereinigt, in welchem dann aber das reine Beamtenelement 
das Uebergewicht behält. Wie die Bildung der stehenden Armee die physische 
Macht, so verleihen diese „Conseils"“ des Landesherrn der aufwachsenden Monarchie 
die rechtliche und sittliche Macht, welche die geschiedenen Elemente des Volkslebens 
zur höheren staatlichen Einheit führt. Auf dem Kontinent geht mit Ueberwältigung 
der ständischen Verfassungen daraus die absolute Monarchie hervor. In England 
ist der endliche Ausgang ein entgegengesetzter. In allen Kulturländern Europa's 
aber bewegt sich der Verfassungsstreit seit dem Ende des Mittelalters in dem gegen- 
seitigen Verhältniß zwischen diesem königlichen Rath und den ständischen Körper- 
schaften wie in einem Brennpunkt. 
In England erscheint der S. als „consilium continuum“ zuerst in dem 
Menschenalter nach der Magna Charta. Die Monarchie, im Streit mit den besitzen- 
den Klassen, sah sich genöthigt, die höchsten Kronbeamten zu einer stehenden Behörde 
zusammenzufassen, um aus dem System der persönlichen Regierung zu einem stetigen 
gesetzmäßigen Gang der Staatsgeschäfte zu gelangen. In dem Jahrhundert Eduard's I., 
II. und III. gewinnt der stehende Rath die Initiative einer großen Gesetzgebung. 
In vereinigten Sitzungen mit den hervorragenden Prälaten und weltlichen Herren, 
als „Magnum Consilium“ oder Parliamentum, sind von dieser Körperschaft die 
grundlegenden Gesetze der heutigen Englischen Staatsverfassung ausgegangen, — in 
einer Zeit, in welcher das Unterhaus noch eine sehr untergeordnete Stellung einnahm. 
Noch einmal in der späteren Epoche der Reformation hat der königliche Rath als 
„Privy Council“ die Initiative der Gesetzgebung sowie die außerordentlichen 
Regierungs= und Strafgewalten erhalten, welche die Durchführung des schweren 
Werkes der staatskirchlichen Reformation erforderte. Die Periode der Tudors bildet 
den Höhepunkt des Privy Council, neben welchem das Parlament zeitweise seine 
Selbständigkeit zu verlieren scheint. Im folgenden Jahrhundert aber bekämpft die 
Dynastie der Stuarts mit dem Privy Council die Parlamentsverfassung überhaupt, 
mit dem Verordnungsrecht die Gesetzgebung, mit der Verwaltungsjustiz des Council 
das ständische Steuerrecht und die lokale Selbstverwaltung. In diesem Kampf siegt 
das Parlament in Folge der gesellschaftlichen Harmonie, welche die drei Stände in 
gleichem Recht, in gleicher Steuerpflicht und wesentlich gleichen Interessen vereinigte. 
Das besiegte Königthum wird gezwungen, auf die Verwaltungsjustiz des Council 
(Sternkammer) und auf die gemißbrauchten außerordentlichen Gewalten zu verzichten. 
Die Geschäfte des Privy Council gehen damit auseinander. Die 
Verwaltungsgerichtsbarkeit konsolidirt sich in den Behörden des selfgovernment unter 
Kontrole der Reichsgerichte. Die Initiative der Gesetzgebung und der Regierungs- 
maßregeln fällt dagegen in einen engern Ausschuß des Staatsraths (Cabinet, 
Ministerrath), welcher schon unter den Stuarts gebildet, jetzt die eigentliche Hand- 
habe der parlamentarischen Parteiregierung wird. Die Minister üben ihre Gewalten 
noch heute als „Staatsräthe“, welche mit einem besonderen Departement betraut 
sind, und bleiben in der Regel lebenslänglich Mitglieder des Privy Council, dessen 
Mitgliederzahl allmählich bis auf 200 gewachsen ist. Diese Versammlung wird aber 
nur selten zu Ceremonialacten geladen. Für die wirklichen Regierungsgeschäfte er- 
geht die Ladung nur an die Mitglieder des zeitigen Ministerraths. Die heutigen 
Orders in Council sind also der Sache nach nur Beschlüsse des Staatsministeriums. 
Die alten Hauptgeschäfte des S. haben sich vertheilt unter Ministerrath, Parlament, 
Reichsgerichte und die Verwaltungsgerichte des Selfgovernment. Nur für die Kolonial- 
und kirchlichen Angelegenheiten bleiben noch Reste einer wirklichen Jurisdiktion des 
Privy Council übrig.
	        
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