Polizeistrafverfahren. 73
Strafe, bald auf den Inhalt der betreffenden Strafvorschriften, bald darauf, ob die-
selben von Verwaltungsbehörden ausgegangen waren oder nicht (vgl. z. B. Mitter-
maier, Die Strafgesetzgebung in ihrer Fortbildung, I. Beitrag, Heidelberg 1841,
S. 221 ff.). In Anlehnung an diesen formalen Gegensatz ist auch die Frage nach
einem materiellen Unterschiede zwischen polizeilichem und kriminellem Unrecht in der
Strafrechtswissenschaft vielfach erörtert worden. Man ging dabei zunächst von der
Meinung aus, welche den naturrechtlichen Anschauungen am Ende des vorigen Jahr-
hunderts entsprach, daß jedes Verbrechen die Verletzung eines bestimmten Rechtes
enthalten müsse. Eine solche ließ sich bei vielen strafbaren Handlungen nicht auf-
finden und man machte das Vorhandensein derselben zum unterscheidenden Merkmal
zwischen kriminellem und polizeilichem Unrecht. So Feuerbach (der freilich in
seiner Revision für „Polizeivergehungen“ eine Verletzung der bedingt nothwendigen
Rechte des Staates, d. h. derjenigen voraussetzt, „die zu ihrer wirklichen Existenz
einen Akt der Staatsgewalt als solcher“ benöthigen), Grolmann und ähnlich Luden,
welcher Rechts= und Gesetzes-Verbrechen unterscheidet, je nachdem ein subjektives Recht
verletzt ist oder nicht und die letzteren als Polizeiverbrechen bezeichnet. Da jedoch
hier der Kreis der Polizeiverbrechen ein zu weiter wurde (Feuerbach betrachtet
als solche: Landzwang, Wucher, Hazardspiel, Schwören, Fluchen, Zutrinken, Bettelei
und sämmtliche Fleischesverbrechen), schränkte man von anderer Seite den Begriff
auf solche Handlungen ein, die weder in ein subjektives Recht eingriffen, noch die
Sittlichkeit verletzten, sondern nur wegen der möglichen nachtheiligen Folgen von
der Gesetzgebung für strafbares Unrecht erklärt worden seien. So v. Wächter und
ähnlich auch Hälschner. Daß der Begriff des Verbrechens eine Unsittlichkeit
nothwendig voraussetze, betont namentlich Stahl, der als Polizeiübertretungen alle
Handlungen ansehen will, „welche nicht gegen die zehn Gebote, sondern nur gegen
die Gebote des Staates sind“. Aehnlich hatte Köstlin den in Rede stehenden
Gegensatz als den „des an und für sich Unrechten“ und des „Gefährlichen“ hervor-
gehoben, wobei er jenes als das „wirkliche“, dieses als das „mögliche“ Unrecht be-
zeichnete. Während Merkel mit seiner Unterscheidung des formellen von dem
materiellen Unrecht sich der Auffassung Luden's nähert, hat Binding darauf hin-
gewiesen, daß es Aufgabe des Staates sei, die Rechtsgüter vor Verletzung zu schützen
und daß zu diesem Zwecke verboten sei: sowol die Verletzung wie die Gefährdung
von Rechtsgütern, als auch die Vornahme gewisser Handlungen, die möglicher Weise
eine Gefährdung jener herbeiführen könnten. Gegen die Bezeichnung dieser Unter-
scheidung als Verbrechen und Polizeiunrecht verwahrt sich Binding ausdrücklich. —
Die Entwickelung der Gesetzgebung hat in Deutschland denjenigen Recht gegeben,
welche, wie Heffter, Bekker, Wahlberg, einen prinzipiellen Unterschied leugneten.
Während das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 in Art. 2 Absatz 2 sagte: „Hand-
lungen oder Unterlassungen, welche zwar an und für sich selbst Rechte des Staates
oder eines Unterthans nicht verletzen, jedoch wegen der Gefahr für rechtliche Ordnung
und Sicherheit unter Strafe verboten oder geboten sind u. s. w., heißen Polizei-
übertretungen,“ unterscheidet das StrafGB. für das Deutsche Reich, wie schon das
Preußische nach Französischem Vorbild gethan, die strafbaren Handlungen nur nach
der Art und Höhe der angedrohten Strafe. Die Uebertretungen sind dabei nicht in
einen qualitativen Gegensatz zu den Verbrechen und Vergehen gestellt worden, nament-
lich finden die allgemeinen Bestimmungen des Straf GB. auch auf jene prinzipiell
Anwendung, soweit nicht innerhalb der zulässigen Grenzen landesgesetzlich etwas
Anderes bestimmt ist. Eine solche Abweichung der Landesgesetze vom Reichsrecht
ist für Uebertretungen sowol wie für Vergehen nur bezüglich der Materien zulässig,
welche nicht Gegenstand des RStraf GB. sind. — Eine Kodifikation des Polizei-
strafrechts hat neben dem RStraf GB. nur in einigen Ländern stattgefunden, z. B.
in Bayern (Pol. Straf B. vom 10. November 1861, revidirtes vom 26. Dezember
1871), Württemberg (vom 27. Dezember 1871), Baden (vom 31. Oktober 1861,