Zurechnung. 1449
Element der Z., die Einsicht, um welche es sich bei der moralischen Z. handelt, ist
eben eine moralische Einsicht. Wem etwas moralisch zugerechnet werden soll, der
muß also ein moralisches Urtheil über das Wollen zu fällen vermögen. Dazu
bedarf es aber einer nicht unbedeutenden geistigen Reife. In der Kinderseele regen
sich nicht derartige Urtheile, sondern vielmehr solche, welche sich auf Unangenehmes
und Angenehmes, Schädliches und Nützliches beziehen. Die Ausbildung zur Moralität
geschieht nur langsam. Es trägt dazu bei vor Allem der Verkehr mit anderen
Menschen und das natürliche Mitgefühl mit menschlichem Thun und Treiben, es
tragen mannigfache absichtlich geschehene Einwirkungen bei, ebenso wie Familien-
und Volkssitte, religiöse Ueberlieferung und Achtung vor einer Autorität. Nur
höchst ausnahmsweise bei einer abnorm krankhaft angelegten Natur oder unter einer
verpesteten Umgebung kommt es zu keiner Entwickelung des moralischen Urtheils
und damit auch nicht zur moralischen Z. fähigkeit. Indessen läßt sich nicht wegleugnen,
daß auch trotz einer im Uebrigen nicht unbedeutenden intellektuellen Entwickelung
sich bei gewissen, namentlich erblich belasteten und von den Ihrigen ksystematisch
zum Unmoralischen erzogenen Menschen ein vollständiger Stumpffinn in sittlichen
Dingen findet und darum wegen „moralischen Irreseins“ die Z. und Bestrafung
hinwegfallen muß, sollte es gleich nothwendig werden, gegenüber derartigen gefährlichen
Individuen zu einschneidenden Sicherungsmaßregeln zu greifen.
Unter jenen moralischen Urtheilen, durch deren Vorhandensein die Z fähigkeit
bedingt ist, wird wol am frühesten und deutlichsten gerade das moralische Urtheil
in dem Inneren des Heranwachsenden vernehmbar, auf welchem die strafrechtliche-
Z. beruht, und das, auf seinen allgemeinsten Ausdruck zurückgeführt, lautet: Thue
Niemandem etwas Uebles, neminem laede! Die Entstehung dieses Verbots knüpft
sich ja an jene schon in der ersten Kinderzeit sich mehr und mehr einprägende Er-
fahrung, daß Störungen des eigenen Strebens und Befindens wehe thun und zur
Reaktion des Selbsterhaltungstriebs herausfordern. Nicht blos muß nun die er-
wachende Theilnahme an den Zuständen anderer gleichfühlender Wesen zu der Ein-
sicht drängen, daß auch sie ähnliche Störungen als Uebel und als Antrieb zur
Racheübung fühlen und somit dazu, daß es schon ein Gebot der Klugheit ist, solche
Störungen zu unterlassen, was sich bald als erste Bedingung jedes Verkehrs und
Zusammenlebens unter den Menschen geltend macht, es findet sich auch weiter das
Bewußtsein ein, daß es in der That billig sei, wenn auf die Störung eine aus-
gleichende Reaktion folgt, womit die Grundlagen gelegt sind zu der Einsicht, daß
Uebelthaten ungerecht, die dagegen gerichtete Vergeltung also gerecht ist —
der Einsicht, welche wir als die eine theoretische Voraussetzung für die strafrecht-
liche Z. bezeichnen müssen.
Damit ist nun freilich noch nicht das zweite, praktische Element der Z#fähigkeit
gegeben. Dem Kennen muß auch ein Können entsprechen. Der Mensch muß so
viele Kraft in seinem Ich konzentrirt haben, daß er sein Wollen der ethischen Norm
gemäß gestalten kann. Das ethische Urtheil darf also in ihm nicht blos, sei es
auch in tadelloser Reinheit, wie ein Schaugericht prangend, aufgerichtet dastehen,
sondern es muß zur lebendigen lebensbeherrschenden Kraft werden können. Das
Urtheil muß sich soweit zu einem Grundsatz des Handelns herausgebildet haben,
daß bei dem Auftauchen eines Wollens, welches in die Kategorie der nach jenem
Grundsatz zu prüfenden Begehrungen gehört, auch die apperzipirende Kraft jenes
Urtheils hervortritt und dem Wollen nicht gestattet wird, im Ich festen Fuß zu
fassen), außer insoweit es sich dem in demselben ausgebildeten Grundsatz unter-
ordnen läßt. Speziell auf dem das Strafrecht interessirenden Gebiet muß der Grund-
satz, keine Ungerechtigkeit, keine Uebelthat begehen zu wollen, jedem Wollen, welches
den Verdacht der Ungerechtigkeit, der Verletzung fremder Güter an sich trägt, als
maßgebend entgegentreten können, widrigenfalls die Z. wegfällt. Diese praktische
Kraft aber erlangt der Grundsatz durch die psychische Lebensgeschichte, welche ihn