Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Zurechnung. 1449 
Element der Z., die Einsicht, um welche es sich bei der moralischen Z. handelt, ist 
eben eine moralische Einsicht. Wem etwas moralisch zugerechnet werden soll, der 
muß also ein moralisches Urtheil über das Wollen zu fällen vermögen. Dazu 
bedarf es aber einer nicht unbedeutenden geistigen Reife. In der Kinderseele regen 
sich nicht derartige Urtheile, sondern vielmehr solche, welche sich auf Unangenehmes 
und Angenehmes, Schädliches und Nützliches beziehen. Die Ausbildung zur Moralität 
geschieht nur langsam. Es trägt dazu bei vor Allem der Verkehr mit anderen 
Menschen und das natürliche Mitgefühl mit menschlichem Thun und Treiben, es 
tragen mannigfache absichtlich geschehene Einwirkungen bei, ebenso wie Familien- 
und Volkssitte, religiöse Ueberlieferung und Achtung vor einer Autorität. Nur 
höchst ausnahmsweise bei einer abnorm krankhaft angelegten Natur oder unter einer 
verpesteten Umgebung kommt es zu keiner Entwickelung des moralischen Urtheils 
und damit auch nicht zur moralischen Z. fähigkeit. Indessen läßt sich nicht wegleugnen, 
daß auch trotz einer im Uebrigen nicht unbedeutenden intellektuellen Entwickelung 
sich bei gewissen, namentlich erblich belasteten und von den Ihrigen ksystematisch 
zum Unmoralischen erzogenen Menschen ein vollständiger Stumpffinn in sittlichen 
Dingen findet und darum wegen „moralischen Irreseins“ die Z. und Bestrafung 
hinwegfallen muß, sollte es gleich nothwendig werden, gegenüber derartigen gefährlichen 
Individuen zu einschneidenden Sicherungsmaßregeln zu greifen. 
Unter jenen moralischen Urtheilen, durch deren Vorhandensein die Z fähigkeit 
bedingt ist, wird wol am frühesten und deutlichsten gerade das moralische Urtheil 
in dem Inneren des Heranwachsenden vernehmbar, auf welchem die strafrechtliche- 
Z. beruht, und das, auf seinen allgemeinsten Ausdruck zurückgeführt, lautet: Thue 
Niemandem etwas Uebles, neminem laede! Die Entstehung dieses Verbots knüpft 
sich ja an jene schon in der ersten Kinderzeit sich mehr und mehr einprägende Er- 
fahrung, daß Störungen des eigenen Strebens und Befindens wehe thun und zur 
Reaktion des Selbsterhaltungstriebs herausfordern. Nicht blos muß nun die er- 
wachende Theilnahme an den Zuständen anderer gleichfühlender Wesen zu der Ein- 
sicht drängen, daß auch sie ähnliche Störungen als Uebel und als Antrieb zur 
Racheübung fühlen und somit dazu, daß es schon ein Gebot der Klugheit ist, solche 
Störungen zu unterlassen, was sich bald als erste Bedingung jedes Verkehrs und 
Zusammenlebens unter den Menschen geltend macht, es findet sich auch weiter das 
Bewußtsein ein, daß es in der That billig sei, wenn auf die Störung eine aus- 
gleichende Reaktion folgt, womit die Grundlagen gelegt sind zu der Einsicht, daß 
Uebelthaten ungerecht, die dagegen gerichtete Vergeltung also gerecht ist — 
der Einsicht, welche wir als die eine theoretische Voraussetzung für die strafrecht- 
liche Z. bezeichnen müssen. 
Damit ist nun freilich noch nicht das zweite, praktische Element der Z#fähigkeit 
gegeben. Dem Kennen muß auch ein Können entsprechen. Der Mensch muß so 
viele Kraft in seinem Ich konzentrirt haben, daß er sein Wollen der ethischen Norm 
gemäß gestalten kann. Das ethische Urtheil darf also in ihm nicht blos, sei es 
auch in tadelloser Reinheit, wie ein Schaugericht prangend, aufgerichtet dastehen, 
sondern es muß zur lebendigen lebensbeherrschenden Kraft werden können. Das 
Urtheil muß sich soweit zu einem Grundsatz des Handelns herausgebildet haben, 
daß bei dem Auftauchen eines Wollens, welches in die Kategorie der nach jenem 
Grundsatz zu prüfenden Begehrungen gehört, auch die apperzipirende Kraft jenes 
Urtheils hervortritt und dem Wollen nicht gestattet wird, im Ich festen Fuß zu 
fassen), außer insoweit es sich dem in demselben ausgebildeten Grundsatz unter- 
ordnen läßt. Speziell auf dem das Strafrecht interessirenden Gebiet muß der Grund- 
satz, keine Ungerechtigkeit, keine Uebelthat begehen zu wollen, jedem Wollen, welches 
den Verdacht der Ungerechtigkeit, der Verletzung fremder Güter an sich trägt, als 
maßgebend entgegentreten können, widrigenfalls die Z. wegfällt. Diese praktische 
Kraft aber erlangt der Grundsatz durch die psychische Lebensgeschichte, welche ihn
	        
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