1452 Zurechnung.
vollständig raubt, mannigfach abgestuft eine Reihe von Gemüthsbewegungen, welche
die Selbstbestimmung in mehr oder minder hohem Maß erschweren. Wer dem An-
sturm eines Affektes unterliegt, welchem er nur beim vollen Aufgebot seiner Seelen-
kräfte mühsam hätte widerstehen können, dem kann die That, zu welcher er hin-
gerissen wurde, nur in geringem Maß zur Schuld gereichen. Darum ist es be-
dauerlich, daß der § 47 des ersten Norddeutschen Entwurfs, welcher die Versuchs-
strafe (was freilich nicht ganz das Richtige war) dann eintreten lassen wollte, wenn
der Thäter zur Zeit der That in einem Zustande war, der die freie Willens-
bestimmung beeinträchtigte, nicht zum Gesetz geworden ist. Während das Straf GB.
iin den meisten Fällen auf die mögliche Geringfügigkeit des üblen Erfolgs dadurch
Rücksicht nimmt, daß es beim Vorhandensein mildernder Umstände oder selbst
ohne solche bis auf ein Minimum der Strafe herabzugehen gestattet (so namentlich
bei den Vermögensverbrechen), kann der geminderten Z.fähigkeit nur theilweise und
in ungenügendem Maße Rechnung getragen werden, soweit mildernde Umstände zu-
gelassen sind. Beim Todtschlag hebt das Gesetz speziell die Provokation als Milderungs-
grund hervor (§ 218); für die mildere Bestrafung des sog. Kindesmordes ferner
(§ 217) war hauptsächlich die Berücksichtigung der psychischen Lage der unehelichen
Mutter maßgebend (wobei freilich das Minimum der Strafe — 2 Jahre Gefängniß —
in einem auffallenden Mißverhältniß zu dem Minimum der Todtschlagsstrafe —
Gefängniß von 6 Monaten — steht!). —
Abgesehen hiervon läßt sich wol sagen, daß unser Straf GB. in der Hauptsache
im Einklang steht mit der richtigen Lehre von der Z. Allerdings ist die Formulirung
des § 51 keine glückliche. Er lautet — und der Wortlaut ist hier sehr wichtig —:
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Be-
gehung der Handlung (richtiger: der That) sich in einem Zustande von Bewußt-
losigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“. Hier ist nun zunächst nur, wie wir
sehen, das Können und nicht das Kennen betont. Indessen kann man sagen:
Freie Willensbestimmung im Sinne des Gesetzes ist nicht möglich, wenn die Mög-
lichkeit der Einsicht in die Strafwürdigkeit der Handlung nicht gegeben war. Denn
der Wille kann nur bestimmt werden durch Motive. Dem Willen, ein Verbrechen
zu begehen, muß ein abhaltendes Motiv gegenübergestellt werden können, wenn jenes
unterdrückt werden soll. Abhaltende Motive können nun zwar allerdings bei dem-
jenigen vorhanden sein, welchem keine Einsicht in die Strafwürdigkeit seines Thuns
möglich ist. Motive der Bequemlichkeit, Zweckmäßigkeit u. s. w. können bewirken,
daß er das Wollen nicht zum Verbrechen werden läßt. Aber derartige Motive
stehen in keinem Zusammenhang mit der moralischen und insbesondere strafrechtlichen
Z. Wer aus Begquemlichkeit etwas an sich Verbrecherisches begeht, ohne aber Ein-
sicht in die Strafwürdigkeit des Gethanen zu besitzen, ladet offenbar keine strafrecht-
liche Schuld auf sich. Strafe ist nur verwirkt unter der Voraussetzung schuldhaften
Willens, und zwar muß die Willensrichtung entweder eine dolose sein (d. h. es
muß der Wille vorliegen, ein als Uebel erkanntes Uebel herbeizuführen) oder zum
mindesten eine kulpose (d. h. es muß eine Handlung gewollt sein, obwol es bei ge-
bührender Aufmerksamkeit erkennbar war, daß aus derselben ein Uebel entspringen
werde). Wer also noch nicht so viel geistige Reife besitzt, daß er seine Handlung
als eine üble Erfolge mit sich führende zu erkennen vermag, kann weder dolos noch
kulpos handeln und muß daher straffrei bleiben. — Indirekt kann man weiter einen
Schluß auf den eigentlichen Sinn des § 51 daraus ziehen, daß das Gesetz im § 56
zur Verurtheilung eines jugendlichen Angeschuldigten verlangt, daß derselbe zur Zeit
der Begehung der Handlung die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit (was freilich
richtiger heißen sollte: Strafwürdigkeit) erforderliche Einsicht besaß, und ebenso im
§ 58 die Freisprechung eines Taubstummen anordnet, welcher die zur Erkenntniß der
Strafbarkeit einer von ihm begangenen strafbaren Handlung erforderliche Einsicht