198 Verträge 1870.
dann Gelegenheit gegeben, Jahre lang fern von Aranjnez über Kaisersachen
nachzudenken. (Heiterkeit.) Meine Herren. bei diesen Betrachtungen ist das
leitende Thema für mich gewesen der höhnende Zuruf, mit dem wir in
Berlin mit der Kaiserkrone empfangen wurden: „Macht wollt Ihr bringen
und habt selbst keine Macht!“ Nun, mieine Herren, das war wahr genng,
und es war die bitterste Kritik, die härteste und wahrste, die uns gesagt
werden konnte. Macht hatten wir zu sammeln versäumt, und Macht konn-
ten wir nicht bieten; wird denn aber beute wirkliche Macht dadurch gegeben?
Man kann zwar nicht sagen, wenn von Baiern der Antrag kommt, die
Kaiserwürde wiederberzustellen: „Nacht habt Ihr nicht!“ Dort ist in der
That Macht; aber, meine Herren, bringt denn diese Macht mit dieser Ver-
fassung für das Oberhaupt neue Macht? Nein, meine Herren, das Ober-
haupt ist schwächer geworden, nicht bloß in der einen, sondern in allen Be-
ziehungen, das Oberhaupt ist so geschwächt, daß die Herren auf dieser Seite,
(nach der rechten Seite zeigend) die auf die Einheit des Staats und die
Einheit seiner Handhabung immer das größte Gewicht gelegt haben, daß die
selbst die größten Bedenken dagegen baben, daß die selbst heute schon sinnen,
wie sie diesen Mängeln abhelfen sollen. Meine Herren, die Verfassung
bietet sicherlich keine Stärkung der Macht gegen den Partikularismus. Wenn
dieser Titel eine Bedeutung haben sollte, so müßte er gefüllt sein mit realer
Macht. Gegen den Föäderalismus reicht die bloße Hausmacht nicht aus.
Sollen wir denn unsere Geschichte ganz vergessen? So sehr die Dinge und
die Menschen sich geän dert baben, so ist es doch nicht in dem Grade der
Fall, daß wir die Lebren der Geschichte zurückweisen dürfen. Unsere Ge-
schichte weist uns auch große Kaiser, mit großer Hausmacht und mit großen
Verdiensten auf. Keiner dieser Kaiser, die sich zugleich immer die Aufgabe
gestellt, ihre Macht wie ihre Verdienste für die GEinheit des Staates zu ver-
werthen, — denn keiner dieser großen Kaiser, die mit großen Verdiensten
um die Nation ausgestattet gewesen sind, bat das versäumt, — und was sehen
Sie als Resultat in der Geschichte? Lange Kämpfe. Und als Resultat der
langen Kämpfe? Sie sehen, daß, wenn der Föderalismus seinen Halt in
der Verfassung hat, bei dem Charakter unserer Nation seine Stellung eine
so gewaltig starke wird, daß der starke Kaiser an ihr zerschellt mit seinen
Bestrebungen, daß dem schwachen Kaiser gegenüber aber der Partikularimus
Schritt für Schritt immer mehr an Terrain gewonnen hat. (Sehr richtig!)
Der Herr Abgeordnete Wagener hat nun aber den Schleier zerrissen der
darüber liegt, wie man auf eine solche Verfassung überhaupt hat eingehen
können, er hat den leitenden Gedanken enthüllt und hat das Ding mit dem
rechten Namen genannt: diese Verfassung ist eine Arbeit für den Moment,
ein Auskunftsmittel berechnet für die angenblickliche Situation; und damit
hat er denn auch zugleich die Interpretation für einen Ausdruck des Herrn
Präsidenten des Bundeskanzler-Amts gegeben, die ich nicht ohne diese Auf-
klärung zu geben gewagt hätte, die ich nun aber ganz ruhig ausspreche.