8 F. Wachenfeld.
Seit dem Bestehen unseres Reichsstrafgesetzbuches hat man nicht aufgehört, an demselben
zu ändem. Fast keine Reichstagssession ist vergangen, ohne daß sie Zusätze und Anderungen
gebracht hätte. Die umfassendsten Novellen sind die aus den Jahren 1876 (Gesetz vom 26. Fe-
qruar 1876), 1880 (Gesetz vom 24. Mai 1880), 1891 (Gesetz vom 13. Mai 1891), 1900 (Gesetz vom
25. Juni 1900), 1908 (Gesetz vom 17. Februar 1908) und 1912 (Gesetz vom 19. Juni 1912).
Die erste bedeutet eine förmliche Revision des Strafgesetzbuches.
Die trotz aller dieser Anderungen gebliebene Reformbedürftigkeit des Strafgesetzbuches
hat den Gedanken an ein völlig neues Gesetzbuch reifen lassen. Im Jahre 1909 erschien
ein „Vorentwurf", der nach Publikation zahlreicher Kritiken (u. a. eines Gegenentwurfs
von Kahl, v. Lilienthal, v. Liszt und Goldschmidt) einer Kommission zur Umarbeitung des-
selben überwiesen wurde. ·
Neben dem Strafgesetzbuch besteht noch eine schier endlose Zahl von sog. Nebengesetzen,
welche die Idee einer einheitlichen Kodifikation fast illusorisch werden läßt. Diese Neben-
gesetze sind teils Kodifikationen anderer Rechtsgebiete, wie z. B. die Konkursordnung, die
Gewerbeordnung, das Handelzsgesetzbuch, die Versicherungsgesetze, die Seemannsordnung, das
Börsengesetz, das Münzgesetz, das Vereinsgesetz, die Reichsversicherungsordnung usw., welche
nur zusammenhangshalber die betreffenden Strafbestimmungen mit aufgenommen haben, teils
Gesetze, welche die Bezeichnung als Nebengesetze im eigentlichen Sinne verdienen, weil sie zwar
um der Strafbestimmung willen erlassen sind, trotzdem aber außerhalb des Strafgesetzbuches
stehen, wie z. B. das Sprengstoffgesetz vom 9. Juni 1884, das Gesetz gegen den Verrat
militärischer Geheimnisse vom 3. Juli 1893, das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wett-
bewerbs vom 7. Juni 1909.
Gar manches, was die sog. Nebengesetze enthalten, wird bereits durch die Bestimmungen
des Strafgesetzbuches gedeckt oder könnte wenigstens durch dieselben gedeckt werden. Eine Ver-
einfachung unseres Strafrechts tut sehr not; ja, gerade in diesem Punkte ist dasselbe so reform-
bedürftig wie in keinem anderen.
Allgemeiner Teil.
Das System des Strafrechts zerfällt zunächst in zwei Abschnitte. In den einen gehören
die allgemeinen Grundsätze, die für alle Verbrechen und Strafen zulreffen, in den anderen die
besonderen Grundsätze, welche einzelnen Verbrechen und deren Bestrafung eigentümlich sind.
Aber die Zweiteilung reicht nicht aus, denn das Strafrecht hat nicht nur Verbrechen und Strafe,
sonderm beide in ihrem Zusammenhang darzustellen. Diesen gewinnen sie durch das Straf-
gesetz, das wir deshalb als den Rahmen für Verbrechen und Strafe zunächst zu betrachten haben.
Erster Abschnitt. Das Strafgesetz.
8§ 2. Jus scriptum und Gewohnheitsrecht.
Strafgesetz ist im allgemeinen jede Strafrechtsregel, mag sie ihre Quelle im gesetzten oder
ungesetzten Recht haben. Aber die Zeit, in der die Gewohnheit die Macht hatte, Reichsstraf-
gesetze zu bilden, ist vorüber Heute werden als solche nur diejenigen Strafrechtsregeln anerkannt,
welche eigens von den gesetzgebenden Faktoren geschaffen und verfassungsmäßig publiziert sind.
Nur eine solche Strafrechtsvorschrift ist Gesetz im Sinne des seit der Aufklärungszeit unser Straf-
recht beherrschenden Gumdsatzes nullum crimen, nulla poena sine lege (vgl. § 2 Abs. 1 StGB.).
Kommt dem Gewohnheitsrecht überhaupt keine rechtserzeugende Kraft zu, dann kann es
weder Rechtssätze hervorbringen noch bestehende außer Anwendung setzen. Besonders wichtig
wird dies für den Gerichtsgebrauch.
Gewiß ist es nur förderlich, wenn sich ein gleichmäßiger Gebrauch bei Handhabung der
Gesetze einbürgert. Gerade zu diesem Zweck besteht ein oberster Gerichtshof für das Reich.