Wilhelm I. 87
Würde gebeten wurde. So entschloß sich König Wilhelm I., fortan
auch den erblichen Titel „Deutscher Kaiser“ zu führen. Am 18. Ja-
nuar 1871, am Jahrestage der Erhebung Preußens zum König-
reiche, versammelten sich endlich zahlreiche Fürsten und Prinzen,
Generale und Minister, Offiziere und Mannschaften aller Waffen-
gattungen im Spiegelsaale Ludwigs XIV. zu Versailles, und hier
übernahm König Wilhelm I. „die kaiserliche Würde in dem Bewußt-
sein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner
Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit
Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu ver-
teidigen . . .“ „Uns aber“, fuhr er in seiner Botschaft fort, „und
Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit
Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Er-
oberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf
dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“.
[Das alte und das neue Reich.] Dasalte, 1806 auf-
gelöste Deutsche Reich war eine Wahlmonarchie und beanspruchte
die Weltherrschaft; der Kaiser besaß die Lehnshoheit über alle
Fürsten und Freien Städte, konnte aber seinen Einfluß nur dann
geltend machen, wenn er über eine große Hausmacht verfügte oder
persönlich hervorragend war. Dasneue, 1871 begründete Deutsche
Reich ist eine Erbmonarchie und will nur ein nationales Reich sein;
der Kaiser sieht in den Fürsten und Freien Städten seine Ver-
bündeten, besitzt aber als König von Preußen die größte Hausmacht
und dadurch einen bedeutenden Einfluß auf alle Reichsangelegen-
heiten. Reichsangelegenheiten sind: die äußere Politik,
Heer und Kriegsflotte, Post= und Telegraphenwesen (mit Ausschluß
von Bayern und Mürttemberg), Zölle an den Reichsgrenzen und
Verbrauchssteuern, z. B. von Branntwein, Bier, Tabak, Zucker und
Salz, endlich das Rechtswesen.
Die Verfassung des Deutschen Reiches. [Gesetzgebende
Gewalten.] Die gesetzgebende Gewalt ruht gemeinsam in
den Händen des Bundesrats und des Reichstages. Der Bundes-
rat besteht aus den Bevollmächtigten der Einzelstaaten, und zwar
gibt Preußen als mächtigster Staat 17 Stimmen ab, Bayern 6,
Sachsen und Württemberg je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-
Schwerin und Braunschweig je 2, die übrigen je 1 Stimme, so daß
die Gesamtzahl der Stimmen 58 beträgt. Der Reichstag besteht