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aus 397 Abgeordneten des deutschen Volkes, die durch allgemeines,
gleiches, geheimes und direktes Stimmrecht in Wahlkreisen von ur—
sprünglich 100000 Einwohnern gewählt werden. Jeder un-
bescholtene Deutsche im Alter von über 25 Jahren hat das aktive und
passive Wahlrecht, d. h. das Recht zu wählen und gewählt zu werden.
Alle fünf Jahre erfolgt eine Neuwahl. Ein Gesetz, auch der Reichs-
haushaltsetat, kommt also nur zustande, wenn Bundesrat und Reichs-
tag einig darüber sind. Der Kaiser hat auf die Gesetzgebung nur
dadurch Einfluß, daß er als König von Preußen im Bundesrat mit
17 Stimmen vertreten ist 1).
[Ausübende Gewalten.] Die ausübende oder
vollziehende Gewalt ist teils Sache des Kaisers, teils Sache des
Bundesrats, teils beider zusammen. Der Kaiser beruft als Vor-
sitzender des Bundes den Bundesrat und den Reichstag; er unter-
zeichnet die Reichsgesetze und ernennt den verantwortlichen Reichs-
kanzler, unter dem 8 Staatssekretäre (des Auswärtigen, des
Innern, der Marine, der Justiz, des Schatzes, der Post, der Eisen-
bahnen und der Kolonien) stehen. Der Kaiser vertritt ferner das
Reich nach außen, erklärt den Krieg, aber nur mit Zustimmung des
Bundesrats, und schließt den Frieden; er ist endlich oberster Kriegs-
herr der deutschen Land= und Seemacht. Der Bundesrat leitet
die Verwaltung des Reiches, indem er die zur Ausführung der Ge-
setze erforderlichen Vorschriften erläßt.
[Reichseinnahmen.] Das Reich erhebt keine direkte
Steuer 2), sondern ist teils auf die Einnahmen aus den Grenz-
zöllen und Verbrauchssteuern (s. § 37, 2), teils auf die
Matrikularbeiträge angewiesen. Diese werden von den
Einzelstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerungszahl aufgebracht.
Genügen diese Einnahmen nicht, um die notwendigen Ausgaben zu
decken, so werden Anleihen aufgenommen.
Wilhelms I. Ratgeber. [Roon, Moltke, Bismarck.]
Unter den Ratgebern des Königs und spätern Kaisers ragten drei
Männer hervor: der Kriegsminister von Roon, der bei der Neu-
ordnung des Heeres hervorragend tätig war, der gewaltige
Schlachtendenker und „große Schweiger“ Helmut von Moltke,
1) Vergleiche die preußische Staatsverfassung mit der deutschen Reichs-
verfassung! Wieso ist diese weit freier als jene?
2) Aber 1906 wurde doch eine Erbschaftssteuer eingeführt.