Vierzehntes Kapitel. Die Eigenschaften der Staatsgewalt. 477
Auf den ersten Blick scheint es da, als ob es keinem Zweifel
unterliegen könne, daß für den souveränen Staat Rechtsschranken
nicht möglich seien, abgesehen vom Völkerrechte, das hier vor-
erst außer Betracht bleiben soll. Noch heute wird häufig die
Ansicht vertreten, daß, wenn der Staat auch niemals jede juristi-
sche Möglichkeit verwirkliche, es dennoch nichts gebe, was für.
ihn juristisch unmöglich seı.
Dieser abstrakte Gedanke ist jedoch nie bis in seine letzten
praktischen Konsequenzen verfolgt worden. Wenn der Staat recht-
lich alles kann, so kann er auch die Rechtsordnung aufheben,
die Anarchie einführen, sich selbst unmöglich machen. Muß
ein solcher Gedanke aber abgewiesen werden, so ergibt sich
eine Rechtsschranke des Staates an dem Dasein einer Ordnung.
Der Staat kann zwar wählen, welche Verfassung er habe, er
muß jedoch irgendeine Verfassung haben. Die Anarchie liegt im
Bereiche der faktischen, nicht der rechtlichen Möglichkeit.
Aber selbst faktische Anarchie ist nur als vorübergehender
Zustand möglich. Die Staatsstreiche und Revolutionen der
modernen Geschichte haben überdies niemals den ganzen Rechts-
zustand aufgehoben, so wie auch die Rechtskontinuität durch
sie nur an einzelnen, allerdings wichtigen Punkten durchbrochen
wurde. Selbst im offenen Kampfe der höchsten politischen
Mächte um Neugestaltung der Herrschaftsverhältnisse kann es sich
nur um zeitweilige Beschränkung oder Suspendierung einzelner
Teile, nie um gänzliche Aufhebung der Rechtsordnung handeln.
Ist es aber dem Staate wesentlich, eine Rechtsordnung zu
besitzen, so ist damit allein schon die Lehre von der absoluten
Unbeschränkbarkeit der Staatsgewalt negiert. Der Staat steht
nicht derart über dem Rechte, daß er des Rechtes selbst sich
entledigen könnte. Nur das Wie, nicht das Ob der Rechtsordnung
liegt ın seiner Macht, in seiner faktischen wie in seiner recht-
lichen.
Die sozialpsychologische Möglichkeit und Wirklichkeit der
Bindung des Staates an sein Recht ist früher dargelegt worden.
Hier ist die Bindung juristisch zu begründen?).
1) Die Begründung, welche Haenel, Staatsrecht I S.114ff., der
Bindung des Staates an die Rechtsordnung gibt, ist nicht juristischer
Natur. Wenn er das Recht als die dem Staate notwendige Erscheinungs-
weise bezeichnet, so ist damit noch keineswegs die Frage gelöst, wie diese
objektive Notwendigkeit zur subjektiven Gebundenheit des Staates führt.