1. Kapitel: Kriegserklärung nach deutschem Staatsrecht. 25
Welche Ausnahmefälle, in denen der Kaiser allein das Ent-
scheidungsrecht besitzt, sind das? Wann liegt ein solcher „An-
griff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten“ vor? Die Ent-
scheidung der Frage, ob unter „Angriff“ die bloße Erklärung des
Krieges an Deutschland oder die formlose Gewaltanwendung
zu verstehen ist, dürfte angesichts der schlechten Fassung dieses
Absatzes nicht ganz leicht sein.
Unter „Angriff“ verstehen wir zunächst jedes tatsächliche,
gewalttätige Vorgehen eines Staates gegen einen anderen mit-
telst seiner offiziellen Streitkräste, das zum Endziel hat die
Beugung des Willens bezw. die Unterwerfung des letzteren
Staates oder wenigstens die Anerkennung des vermeintlichen
Anspruchs Die Gewalt, die geübt wird, ist eine physische mit
Waffen, ein Kampf, der die Schädigung bezw. Vernichtung der
gesamten Kraft des Gegners bezweckt. Das feindliche Vorgehen
darf ferner nicht mit allen Mitteln und nicht gegen jedes be-
liebige Gut des Gegners erfolgen, es muß sich vielmehr im
Rahmen der erlaubten Kriegsmittel bewegen. Der Angriff muß
endlich ausgehen von den mit der militärischen Aktion betrauten
Organen des Staates. 1) Welche Kriegsmittel erlaubt sind und
welche Streitkräfte als „bewaffnete Macht“ der Criegführen-
den Parteien angesehen werden, bestimmt der Landkriegsrechts-
kodex der II. Haag. Konf. (R. G. Bl. 1908 S. 154.)
Durch die Gewaltanwendung unterscheidet sich der „An-
griff“ von dem Vorgehen eines Staates gegenüber einem an-
deren, das lediglich eine Rechtsverletzung darstellt. Während
letztere den verletzten Staat unter Umständen erst zum (An-
griffs-) Kriege gegen den verletzenden Staat berechtigt, be-
findel sich der Gegner gegenüber einem „Angriff“ bereits in
der Stellung eines Verteidigers. Im ersteren Falle (zum An-
griffskriege) ist nach der Rcichsverfassung die Zustimmung des
Bundesrates erforderlich; im letzteren Falle aber hat der Kaiser
das alleinige Entscheidungsrecht. Ob der angegriffene Staat
die Gewalttaten erwidern, m. a. W. den Krieg seinerseits auf-
nehmen will, oder sich einfach passiv verhält und ohne Kampf
den gegnerischen Anspruch anerlkennen und befriedigen will,
hängt von seinem Ermessen, noch mehr aber von seinen phy-
1) Ogl. Ullmann, Bölkerrecht S. 476.