Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Grsfbrilannien. (November 21. 22.) 523 
gemeinen Bequemlichkeit der Nation verursachen. Nachdem zwei aufeinander- 
folgende Unterhäuser dasselbe Urteil gefällt haben, ist die Zeit gekommen, 
diese Streitfrage, die einer fortschrittlichen Gesetzgebung den Weg völlig 
sperrt, dem Schiedsspruch der Nation zur endgültigen Entscheidung zu 
unterbreiten. 
Nach der Rede des Premierministers ergriff Balfour das Wort 
und spottete über die Entscheidung der Regierung, nur einen Teil des 
Budgets zur Debatte zu bringen. Die Regierung fürchte anscheinend, 
Zeit zur Erwägung der Sachlage zu geben; sie habe eine sehr schwere 
Verantwortlichkeit auf sich genommen durch den Rat, den sie dem König 
erteilt habe. Als ein Mann, der die Traditionen der Konstitution von 
Königen und Ministern respektiert zu sehen wünsche, gebe er seinem tiefen 
Bedauern über die Politik der Regierung Ausdruck. Abgeordneter Belloe 
(liberal) lenkte die Aufmerksamkeit des Hauses auf die Tatsache, daß Asquith 
nichts über die von der Krone zu gewährenden Garantien sagte. 
Nach weiterer Debatte wurde die anfangs beantragte Resolution, 
den Rest der Session für die Regierurgsvorlagen zu verwenden, an- 
genommen. 
Währenddessen fanden vor dem Parlamentsgebäude wieder Angriffe 
der Suffragettes auf die Polizisten statt, die zum Teil durch Messerstiche 
verletzt wurden. 80 Damen werden verhaftet, aber auf Anordnung des 
Ministers des Innern straflos freigegeben. 
21. November. (Oberhaus.) Vorschlag des Referendums. 
Lord Lansdowne kündigt für den 23. November Resolutionen an, 
durch die das Referendum eingeführt werden soll: 1. Es sei wünschenswert, 
Vorkehrungen zu treffen zur Beilegung der Meinungsverschiedenheiten 
zwischen dem Unterhause und dem Oberhause, das nach den Reform- 
vorschlägen von Lord Rosebery umzubilden sei. 2. Wenn man über 
Gesetzesvorlagen, die keine finanziellen seien, sich nicht einigen könne, so 
soll eine gemeinsame Sitzung beider Häuser zur Entscheidung der Frage 
stattfinden mit Ausnahme des Falles, wenn es sich um Uneinigkeiten über 
eine Frage von großer Wichtigkeit handelt, die dem Urteil der Bevölkerung 
nicht unterbreitet worden sei. In einem solchen Falle solle die Angelegen- 
heit der Wählerschaft zur Entscheidung unterbreitet werden und nicht einer 
gemeinsamen Sitzung beider Häuser. Die Pairs seien damit einverstanden, 
bei Gewährung gemeinsamer Sicherheiten auf ihre verfassungsmäßigen 
Rechte der Rückweisung von Finanzvorschlägen zu verzichten. 
22. November. Gegen den aristokratischen Charakter der Ver- 
fassung. . 
In Mile End (Essex) hält Schatzkanzler Lloyd George eine heftige 
Rede gegen die Aristokratie. Man müsse darauf bestehen, daß, wenn das 
Volk beschlossen habe, daß gewisse Maßnahmen Gesetz werden sollen, nie- 
mand, weder ein Großer noch ein Kleiner, das Recht haben solle, das zu 
verhindern. Wenige französische Freibeuter aus der Normandie hätten 
seinerzeit die Besitzer des Grunds und Bodens in England getötet und eine 
Totensteuer von 100 Prozent erhoben. Auf diese Weise sei die britische 
Aristokratie entstanden. Der Schatzkanzler schloß mit der Mahnung, den 
Weg dafür zu ebnen, daß die Gerechtigkeit ebenso leichten Zugang habe 
zu den grauen Häusern des Volkes wie zu den Palästen. 
22. November. (Unterhaus.) Revolte der Suffragettes. 
Auf die Anfrage des Abg. Keir Hardie über die Absichten der Re- 
gierung hinsichtlich des Frauenstimmrechts gibt Asquith eine ausweichende
	        
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