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alters her freiheitliebendes, eroberndes und maßlos
stolzes Volk, wie diese Eigenschaften bis zum Extrem
in den großen und reichen Geschlechtern verkörpert
sind, auf der einen Seite die Ausbreitung der
deutschen Herrschaft und ihre eigene Herabdrückung
und Einengung von Jahr zu Jahr drückender emp-
fanden — auf der anderen Seite aber, und das
ist das Entscheidende, von dieser deutschen Herrschaft
den Eindruck hatten, daß sie, die Hereros, ihr gegen-
über im letzten Grunde der stärkere Teil seien. Wo-
her dieser Eindruck bei den Hereros stammte, das
ist elne Frage für sich, auf die hier nicht einzugehen
ist; daß er aber vorhanden war, und daß sein Vor-
handensein die treibende Ursache zum schließlichen
Losbruch bildete, das anzuerkennen ist die Vorbe-
dingung für das Verständnis der gegenwärtigen
Situation und für die Verhütung zukünftiger ähn-
licher Ereignisse. Der Ubergang vom Hereroland
in weiße Hände, die Verarmung der mittleren
und kleinen Viehbesitzer, die die Händler verschuldet
haben, und was sonst noch angeführt wird, hat zwelfel-
los die Entschlossenheit zum Aufstande geschürt; der
Bondelzwartkrieg und die Entblößung des Herero-
landes von Truppen haben die Verlockung, gerade
im gegenwärtigen Augenblick loszuschlagen, groß ge-
macht; Primärursachen der Empörung sind aber alle
diese Dinge nicht gewesen.
Die Mehrzahl der vom Ausstande betroffenen
Personen hatten überdies mit dem Händlertum gar
keinen oder nur einen sehr losen Zusammenhang.
Ein großer Teil der Verluste, namentlich in den
Gebieten von Windhuk, Outjo, Grootfontein, entfällt
auf Leute, die überhaupt außerhalb des Herero-
landes und des elgentlichen „Handelsfeldes“ wohnten.
Unter diesen Umständen muß die Uberzeugung, des-
halb ohne halbwegs ausreichende Entschädigung zu
bleiben, weil die Volksvertretung und die öffentliche
Meinung zu Hause einer irrtümlichen Vorstellung
von den Ursachen des Aufstandes nachgeht, einer
Vorstellung, die überdies der weißen Bevölkerung
des Schutzgebietes als Ganzem schweres Unrecht zu-
fügt — von der allerbedauerlichsten und verhängnis-
vollsten Wirkung auf die Gesamtheit unserer Kolonial-
bevölkerung sein und ihr allen Mut und alles Ver-
trauen auf das Mutterland und sein Verständnis
für ihre Nöte rauben.
Der zweite, matertelle Faktor ist der tatsächliche
Ruin des ganzen mittleren Teiles der Kolonie. Man
muß sich vorstellen, was das heißt, für einen Mann,
der eine Reihe von Jahren in harter Arbeit auf
alle Kulturgenüsse verzichtet hat, in der begründeten
Hoffnung, nun bald am Ende der Entbehrungen zu
stehen und ein „menschenwürdiges“ Leben beginnen
zu können, wenn mit einem Male die ganze Frucht
seiner Arbekt weggewischt ist, und er selbst mit
knapper Not nur sein nacktes Leben rettet. Man
ermesse weiter, daß die Betroffenen — und größten-
teils sicher mit Recht — der Uberzeugung sind, daß sie
schuldlos von dem Unheil zerschmettert sind; daß
sie im Vertrauen auf den unbedingten Schutz des
Landfriedens durch die Regierung gekommen sind
und zu arbeiten begonnen haben; und daß trotz
alledem die Hoffnung auf Entschädigung und auf die
Möglichkeit eines soliden und rationellen Wieder-
beginnes der Arbeit so gut wie vereitelt wird!
Wenn nicht billige Entschädigung gewährt wird,
sondern nur ein unzureichendes Darlehen oder eine,
ihrem Wesen nach geringe Unterstützung, so ist es
höchst unwahrscheinlich, daß sich angesichts dieser
moralischen und materiellen Eindrücke noch eine
nennenswerte Zahl von Ansiedlern finden wird, die
— mit unzureichenden Mitteln und neuen Ver-
pflichtungen zu den großenteils noch unregulierten
alten hinzu — ans Werk des Wlederaufbaues gehen
würde. Sie werden es vielmehr vorziehen, wenn
auch ganz oder halb ruiniert, das Land zu verlassen
und sich anderswo (viele denken jetzt an Argentinlen,
Chile, Australien, andere an Rückkehr nach Deutsch-
land) eine Existenz zu gründen. Von welchen Folgen
elne solche Landflucht aus den betroffenen Teilen
Südwestafrikas rücksichtlich des Eindrucks auf die
sonst etwa zur Auswanderung und Ansiedlung im
Lande geneigten Elemente zu Hause, damit aber für
die ganze zukünftige Besiedlung und materielle Ent-
wicklung Südwestafrikas seln würde, braucht nicht
weiter erläutert zu werden. Aber auch darüber
hinaus würde der vollkommene wirtschaftliche Ruin
der zentralen Landesteile, denn um einen solchen
handelt es sich — mit Notwendigkeit auch den Zu-
sammenbruch so vieler anderer Persönlichkeiten,
Firmen und sonstigen Wirtschaftsfaktoren im Schutz-
gebiet nach sich ziehen, daß sich eine ökonomische
Katastrophe für das ganze Land daraus ergeben
wird.
Im Norden, den Gebieten von Grootsontein und
Outjo, ist der angerichtete Schaden bedeutend geringer,
und nur die Minderheit der Ansiedler ist wirklich
schwer getroffen oder gänzlich ruiniert. Bei den
verhältnismäßig bedeutenden natürlichen Hilfsquellen
dieser Regionen, die freilich auf der anderen Seite
erst im ersten Beginn der Besiedlung und wirt-
schaftlichen Entwicklung steht, ist dort, zumal an-
gesichts des Bahnbaues und der bevorstehenden Er-
öffnung des Minenbetriebes, ein spontaner Wieder-
ausschwung trotz des angerichteten Schadens an sich
zu erwarten. Trotzdem ist der Eindruck des Schlages
und der ersten dorthin gelangten, seinerzeit in der
Südwestafrikanischen Zeitung veröffentlichten Aus-
lassungen des Gouvernements über die Entschädigungs-
frage und waos damit zusammenhing, bereits ein so
niederschmetternder gewesen, daß ein großer Teil der
Ansiedler daraufhin den Entschluß faßte, das Land
zu verlassen, ein Entschluß, den von dort aus mehrere
bereits haben zur Tat werden lassen. Dieselbe hoch-
gradige Verbitterung der Leute, dieselbe Verzweiflung,
es unter den herrschenden Verhältnissen in Südwest-
afrika je wieder zu etwas bringen zu können, die-
selbe Entschlossenheit, das Land zu verlassen, falls