Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXIV. Jahrgang, 1913. (24)

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Literatur-Bericht. 
  
Thurnwald, Dr. Richard: Forschungen auf den 
Salomo-Inseln und dem Bismarck-Archlpel. Mit 
Unterstützung der Baeßlersstiftung. Herausgegeben 
im Auftrage der Generalvervaltung der Königlichen 
Museen zu Berlin. Band #: 
Buin nebst einem Anbang: die 
lomo-Inseln von E. M. v. Hornbostel. Mit 
14 Tafeln, 3 Karten und 2 Nocabeis ielen. 538 8. 
zeb. 32 M. — Band III: Volk, Staat und 
Wirtschaft. Mit einer 1 Nr und 70 Summ- 
tafeln. 92 S. Preis geh. 18 AF. — Berlin 1912. 
Verlag von Dietrich Keimer (Ernst Vobsen). 
Vorerst sind nur zwei Teile der Studienergebnisse 
Dr. Thurnwalds erschienen, da er inzwischen zu einer 
neuen Forschungsreise an den Unterlauf des Kaiserin- 
Augusta-Flusses in Deutsch-Neuguinen aufgebrochen 
ist. Die spüner erscheinenden beiden Bände ollen den 
Wortschatz der Bevölkerung von Buin und das Ma- 
terial zu einer Grammatik ihrer Sprache sowie die 
Technologie der Buin-Kultur enthalten. 
Thurnwald will, wie er in der Einleitung her vor 
hebt, exakte Ethnologie treiben; ungetrübt durch dos 
umgestaltende Filter des Berichterstatters soll sich ein 
Biüld von den Eingeborenen vor dem Hörer aufrollen. 
Zu dem Zweck schlägt Thurnwald die repräsentative 
Methode ein und führt die Bevölkcrung seines For- 
schungsgebictes selbst redend vor. Er verrritt den 
einzig richtigen Standpunkt, den wir leider nur zu oft 
auch Etbnographen von Fach nicht innchalten sehen: 
einen Stamm gründlich erforschen statt viele 
flüchtig zu beobachten und dann unwillkürlich eine 
unrichtige Darstellung zu geben, weil das Nicht- 
Hehene zuungunsten des Geschauten zurücktritt. 
ach einer Orientierungsreise im melanesischen Gebiei, 
konzentriene Thurnwald seine Forschungsarbeit auf 
Buin, cinen Distrikt mit etwa 10 000 Eingeborenen 
südlich vom Kronprinzengebirge auf der Insel Bougain- 
ville. Die dortige Bevölkcrung entstand aus einer 
Mischung von Melunesiern, die erobernd auftraten und 
ihre Technik und Kunst einführten, mit der unter- 
drückten papunnischen Vollksschicht, deren Spruche 
aber von den Sicgern angenommen wurde. Die täg- 
lichen Reden dieser Buin-Leute, zumal derer, die 
Birchin-Enslich sprachen, hat' Thurnwald studiert. 
denn hier Piegelte“ sich r— ihre Empfin-- 
dungs- und Denkart; vor allem aber amele er ihre 
Lieder, weil diese in alle Verhültnisse ihres Lebens 
hineinleuchten und sich in ihnen der Eingeborene 
über seine Erlebnisse selbst äußert. Den Anfang 
seiner Sammlung machte Thurnwald auf einem Kutter, 
der Buin-Leute nach den englischen Pflanzungen 
brachte; im Klühenden Sonnenbrand ließ er sich ihre 
Gesänge diktieren, übersetzen und erklären, einc für 
den Sammler ebenso anstrengende wie für die Ein- 
borenen ermüdende Arbeit, der wir aber einen statt- 
ichen Band .-Buin-Literatur- verdanken, ein Stück 
Poesie des steinzeitlichen Menschen. iese Lieder 
führen ganz in das Alltagsleben der Buin-Leute, in 
das Wogen ihrer Leidenschaften, ihren Kampfesmut 
und ihre Furchtsamkeit, ihre Eifersucht und ihren 
intimen Verkehr mit dem anderen Geschlechte ein. 
Oft sucht der Dichter, so namentlich in den Mäünner- 
liedern, seine Welkkenntnis und sein mythologisches 
Wissen sowie totemistische Gedankenkomplexe, be- 
bonders in den Vergleichen, anzubringen. Mit „Müänner- 
stolz“ wird in Licbesliedern betont, dat nieht der 
Lieder und Sagen aus 
Musik auf den Sa- 
  
  
Mann um die Gunst der Frau wirbt. sondern er der 
Unwiderstehliche ist, nach dessen Zuneigung sie scufet. 
Meist zeigt sich in den Gesüngen ein wunderbares 
Gemisch von Verschleierung und sFmbolischer Sprache 
sowie von einer Derbheit und Unverhülltheit, die 
selbst einem wenig prüden Europöer doch anstögig 
sein mulz. Von den Frauenliedern zeichnen sich nur 
wenige durch Plastizitüt der Sprache, Reichtum ge- 
Jankilcher, Bücter und Symbole und durch Steigerung 
im Aufban 
W. ii#rrns, de Lieder der Buin-Leute in verfeinerter 
Literatursprache den Triebrn. „Wünechen un off- 
nungen der Dichter und ihrer Auftraggeber — Be- 
zahlung in Muschelgeld — u geben, offen- 
baren die Sagen und Aythen im Erzählungston der 
Alltagssprache die Einwirkeung der Umwelt auf den 
geistigen Menschen; sic schildern die Schrecken des 
Todes und der Krankheit, erklüren kosmische Er- 
scheinungen, deuten terrestrische DPhünomene, stellen die 
Bezichungen zur Pflanzen- und Tierwelt dar und ent- 
halten Gedanken über den Ursprung des eigenen 
Wesens und der heimischen Kultur. 
Im Anhang zu Band I entwirft Dr. v. Horn- 
bostel auf Grund der Thurnwaldschen Phonogramme 
ein Bild von der Tonkunst auf den Salomo-Inseln; 
ür ist die hohe Ausbildung der Panpfeife, das 
ahestrale Zusammenspiel und die Verbindung von 
Phaler und instrumentuler Musik —* darum 
wirkt sie auf den Europäcr angene 
Die Tafeln des 1. Bandes bieten LTeichnon en der 
Buin-Leute, die sie zur Erläüuterung von Ausdrücken 
in ihren Liedern anfertigten. 
Der 3. Band will ebenfalls in möglichst. dokumen- 
tarischer Form die Gestaltung des geselligen Lebens 
schildern. Der Verfasser bebandelt zunüchst die 
bensabschnitte (Pubertüt, Heirat, Tod), dann „,Virt- 
schaft und Staat“, weiter unter den „ nkeiten“ 
namentlich die Kriege, die meistens entweder der Ri- 
valitüt auf scxucllem Gebicte oder politischer Uber- 
macht entspringen. 
Mehr als die Hälfte des Bandes nehmen Stamm- 
tafeln ein; sic sind so angelegt, dalt zuerst eine 
Ahnentafel auftestellt wurde und dann, von den 
Aszendenten ausgehend, die Seitenlinien und Ver- 
schwägerungen aufgezählt werden. Bei dicser enorme 
Geduld erfonlernden Arbeit verfolgte Thurnwald den 
Zweck, eine Ubemicht über die gesamten biologischen 
Verhältnissc des Volkes zu geben. Auf Grund seiner 
statistischen Durcharbeitung des Mutcrials kommt er, 
um hier nur zwei besonders wichtige Resultate her- 
vorzuheben, zu den Ergcbnissen: die Sterblichkeit der 
männlichen Bevölkcrung zwischen 20 und 40 Jahren 
ist gröhßer als die der weiblichen des gleichen Alters 
— cine Folge der Kümpfe und Mordtaten; ferner der 
vom #iussenbiologischen und kolonialwirtschaftlichen 
Standpunkte aus wertvolle zahlenmühige Nachweis: 
der Prozentsatz der auf ein Ehepaar entfullenden 
Kinderzahl nimmt in Buin und Lambutjo (wie auch 
sonst in der Südsec) stündig ub, daher die konstame 
Verminderung der Volkszahl, eine Folge der einge- 
schleppten Geschlechtskrankheiten. 
Thurnwalds Werk spricht für sich sclbst; seine 
cKakte Forschungsmethode, seine scharfsinnige Beob- 
achtungsgabe und sein auhergewöhnliches Geschiek, 
in die Psyche der Eingeborenen einzudringen, gstellen
	        
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