Full text: Die gesetzlichen Grundlagen der Seuchenbekämpfung im Deutschen Reiche unter besonderer Berücksichtigung Preußens.

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Ansteckungsverdächtig im Sinne der Seuchengesetze sind 
solche Personen, bei welchen zwar Krankheitserscheinungen noch nicht 
vorliegen, bei denen aber infolge ihrer nahen Berührung mit Kranken 
die Besorgnis gerechtfertigt ıst, daß sie den Krankheitsstoff in sich 
aufgenommen haben. Ansteckungsverdächtig sind daher alle An- 
gehörigen des Kranken und das Pflegepersonal, sowie alle Personen, 
welche mit dem Kranken längere oder kürzere Zeit in Gemeinschaft 
gelebt haben. Kommt z. B. auf einem Floß ein Fall von Cholera vor, 
so ist die gesamte Bemannung des Floßes als ansteckungsverdächtig 
zu betrachten. Ansteckungsverdächtig können unter Umständen auch 
Personen werden, welche mit dem Kranken nur flüchtig in Berührung 
gewesen sind, z. B. der Kutscher eines Wagens, auf welchem ein 
Kranker ins Krankenhaus übergeführt worden ist. Einige Krankheiten 
sind so stark übertragbar, daß ganz flüchtige Berührungen zur Auf- 
nahme des Krankheitsstoffes genügen — dies ist z. B. bei Genick- 
starre, Pocken und Scharlach der Fall — während bei anderen Krank- 
heiten, z. B. Aussatz, selbst eine längere und innigere Berührung nicht 
zur Übertragung der Krankheit zu führen braucht. Auch hier bedarf 
es einer sorgfältigen Abwägung in dem einzelnen Falle. 
Bezüglich der Dauer des Ansteckungsverdachtes ist noch folgen- 
des hervorzuheben. Am längsten dauert der Ansteckungsverdacht beim 
Aussatz. Neuere Erfahrungen haben ergeben, daß Personen, welche 
mit Aussätzigen in Berührung gewesen sind, zuweilen erst nach 
5 Jahren selbst an Aussatz erkranken. Daß bei der Tollwut die Zeit 
der Inkubation gleichfalls eine lange ist, wurde schon erwähnt. Wieder- 
holt ist beobachtet worden, daß Personen, welche von einem tollen 
oder tollwutverdächtigen Tiere gebissen wurden, erst nach Monaten 
bis zu einem Jahre an Tollwut erkrankten. Bei den übrigen übertrag- 
baren Krankheiten ist die Zeit der Inkubation eine erheblich kürzere. 
Sie wird bei Cholera bis zu 5, bei Pest bis zu 11, bei Scharlach bis 
zu 13 Tagen angenommen, bei Typhus dauert sie 8—14, bei Trichi- 
nose etwa 14 Tage; wie lange sie bei Genickstarre dauert, steht noch 
nicht genügend fest. 
Die Personen, auf welche die Beobachtung erstreckt werden darf, 
sind bei den einzelnen übertragbaren Krankheiten verschieden. Bei den 
sechs Krankheiten des Reichsgesetzes sind sowohl die Kranken wie die 
krankheits- und ansteckungsverdächtigen Personen einer Beobachtung 
zu unterwerfen. Von den Krankheiten des preußischen Gesetzes ist 
nur bei Syphilis, Tripper und Schanker eine so ausgedehnte Beob- 
achtung zulässig, und auch nur bei solchen Personen, welche gewerbs- 
mäßig Unzucht treiben; kranke and krankheitsverdächtige Personen 
dürfen nur bei Körnerkrankheit, Rotz, Rückfallfieber und Typhus einer 
Beobachtung unterworfen werden, während bei Tollwut sich das Recht 
der Beobachtung auf die ansteckungsverdächtigen Personen beschränkt.
	        
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