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bekanntlich in erheblicher Weise zu und erscheinen in den Ab-
sonderungen des Kranken in kolossaler Menge. In der Flüssigkeit,
welche dem Sterbenden aus Mund und Nase fließt, sind z. B. die Er-
reger des Milzbrandes und der Pest in kolossalen Mengen vorhanden.
Dasselbe gilt von Lungentuberkulose, Diphtherie, übertragbarer Genick-
starre, Keuchhusten. Kranke, welche an Cholera, Ruhr oder Typhus
zu Grunde gehen, sind häufig genug infolge der reichlichen Durchfälle
mit bakterienhaltigem Kot beschmutzt. Die Krankheitskeime finden
sich aber nicht nur am Körper des Kranken selbst, sondern in seiner
Leib- und Bettwäsche und in der nächsten Umgebung des Sterbe-
bettes. Die Personen, welche mit der Reinigung und Einsargung der
Leiche sich «beschäftigen, und alle diejenigen, welche sich am Sterbe-
lager aufhalten, sind daher auf das äußerste gefährdet.
Die Pietät und religiöse Vorschriften bringen es mit sich, daß
das Sterbelager und das Totenbett häufig den Mittelpunkt für 'die
Versammlung zahlreicher Angehöriger und Freunde des Verstorbenen
darstellt. Nicht nur, daß die nächsten Angehörigen die Leiche küssen
und sich wiederholt in der Umgebung der offen aufgebahrten Leiche
versammeln, in vielen Gegenden ist es auch üblich, daß sogenannte
Leichenschmäuse veranstaltet werden, bei denen die Verwandten und
Freunde im Nebenzimmer oder im Sterbezimmer selbst Nahrungsmittel
zu sich nehmen, weil sie dadurch den Verstorbenen zu ehren glauben.
Die Fälle, in denen sich an Leichenbegängnisse Krankheitsverschlep-
pungen anschlossen, sind ganz außerordentlich häufig. Mit Recht wird
daher durch $S 21 R.G. den Behörden die Befugnis eingeräumt, für
die Aufbewahrung, Einsargung, Beförderung und Bestattung der
Leichen von Personen, welche an einer gemeingefährlichen Krankheit,
gestorben sind, besondere Vorsichtsmaßregeln anzuordnen. Diese Be-
fugnis wird durch $S 8 P.G. auf Diphtherie, Milzbrand, Rotz, Ruhr,
Scharlach und Typhus ausgedehnt. Als solche Vorsichtsmaßregeln
werden in der Begründung zum Reichsgesetz folgende aufgezählt:
Verbot der Ausstellung von Leichen in den Wohnungen oder in all-
gemein zugänglichen Räumen; möglichst baldige Entfernung der Leiche.
aus der Wohnung; Anwendung desinfizierender Stoffe beim Waschen
und bei der Einsargung;, Verwendung festschließender Särge; Verbot
von Leichenfeierlichkeiten im Sterbehause; Regelung der Beförderung
der Leichen zum Bestattungsorte.
In den allg. Ausführungsbest. zu $S 8 P.G. wird dies in Ziff. 3,
XII näher ausgeführt. Die in vielen Gegenden, namentlich auf dem
Lande übliche Sitte, daß Schulkinder die Leiche begleiten und am
offenen Grabe singen, hat zu folgender Vorschrift Veranlassung ge-
geben: „Das Betreten des Sterbehauses, die Begleitung der Leichen der
an Diphtherie oder Scharlach verstorbenen Personen durch Schulkinder
und das Singen der Schulkinder am offnen Grabe ist zu verbieten.“